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 Bund Verwaltungspraxis der Bundesbehörden

bund/vpb/52-36.html 

VPB 52.36

(Bundesamt für Justiz, 7. Mai 1987)


Regeste Deutsch
Résumé Français
Regesto Italiano
 
Fragestellung
 
Ausführungen
Ziffer 1.
Ziffer 2.
Ziffer 3.
 

Berufsbildung. Einführungskurse. Möglichkeit der Befreiung. Keine rein historische Gesetzesauslegung. Für eine allfällige Befreiung im kaufmännischen Bereich muss das zuständige Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit die zurzeit seines Entscheides bestehenden Verhältnisse und Erfordernisse prüfen.


Formation professionnelle. Cours d'introduction. Possibilité d'exemption. Interprétation non purement historique de la loi. Pour prononcer une éventuelle exemption dans le secteur commercial, l'Office fédéral de l'industrie, des arts et métiers et du travail compétent à cet effet doit examiner les circonstances et les impératifs régnant au moment de sa décision.


Formazione professionale. Corso d'introduzione. Possibilità d'esonero. Interpretazione non meramente storica della legge. Per un eventuale esonero nel settore commerciale, l'Ufficio dell'industria, delle arti e mestieri e del lavoro, competente in materia, deve verificare le circostanze esistenti e le esigenze poste al momento della decisione.




Dem Bundesamt für Justiz wurde die Frage unterbreitet, wie weit bei der Anwendung von Art. 16 Abs. 2 des BG vom 19. April 1978 über die Berufsbildung (BBG, SR 412.10), die Äusserungen des Bundesrates in der Botschaft vom 26. Januar 1977 berücksichtigt werden müssen. Es nahm dazu wie folgt Stellung:

1. Die Schaffung von Einführungskursen ist eine der wesentlichen Neuerungen des BBG vom 19. April 1978. Dieses brachte somit grundsätzlich den Übergang zum trialen System in der beruflichen Ausbildung. Nach Art. 16 Abs. 1 BBG sind die Berufsverbände verpflichtet, die Einführungskurse durchzuführen. Das Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA) kann jedoch gemäss Abs. 2 dieser Bestimmung «Berufe, deren besondere Struktur die Veranstaltung von Einführungskursen nicht erfordert, auf Gesuch hin davon befreien». Wie der Bundesrat in seiner Botschaft ausführt, «dürfte (dies) zum Beispiel für den Beruf des kaufmännischen Angestellten zutreffen, . . .» (BBl 1977 I 703). Im Verlauf der parlamentarischen Beratungen wurde dieser Hinweis noch verdeutlicht. Frau Thalmann, Berichterstatterin im Nationalrat, präzisierte nämlich: «Wer scheidet nun für diese Einführungskurse aus? Da ist einmal das kaufmännische Personal (rund 50000)» (Amtl. Bull. N 1977 1599).

2. Wie der Anfrage zu entnehmen ist, hat der Zentralverband Schweizerischer Arbeitgeber-Organisationen das Gesuch gestellt, bei der kaufmännischen Lehre auf die Durchführung von Einführungskursen zu verzichten. Über dieses Gesuch hat das BIGA zu befinden. Art. 16 Abs. 2 räumt ihm dabei einen grossen Ermessensspielraum ein, und zwar in doppelter Hinsicht: einerseits handelt es sich um eine Kann-Vorschrift («Das Bundesamt kann Berufe. . . auf Gesuch hin davon befreien.») und anderseits hat das BIGA zu beurteilen, ob die besondere Struktur eines Berufs die Veranstaltung von Einführungskursen erfordert oder nicht.

Natürlich ist bei der Auslegung und Anwendung der Bestimmung auch deren Sinn und Zweck zu berücksichtigen. Weil es sich um einen relativ jungen Erlass handelt, kommt dabei den Intentionen des Gesetzgebers, die namentlich in den Materialien ihren Ausdruck gefunden haben, ein besonderes Gewicht zu (s. BGE 108 Ia 37; Grisel André, Traité de droit administratif suisse, Bd. I, Neuenburg 1984, S. 129 f.). Für den Vollzug verbindlich sind die Materialien jedoch nicht. Gerade die Ausführungen in der Botschaft, auf die sich der Zentralverband der Schweizerischen Arbeitgeber-Organisationen in seinem Gesuch beruft, sind übrigens sehr vorsichtig und zurückhaltend formuliert («Das dürfte zum Beispiel für den Beruf des kaufmännischen Angestellten zutreffen», BBl 1977 I 703, Hervorhebung durch den Gutachter). Für die Präzisierungen, die im Verlauf der parlamentarischen Beratung gemacht worden sind, trifft dies allerdings nicht zu. Unter diesen Umständen ist es immerhin gerechtfertigt, auch die im Moment des Entscheids bestehenden Verhältnisse und Erfordernisse im Bereich der kaufmännischen Ausbildung zu berücksichtigen. Die objektiv-zeitgemässe oder geltungszeitliche Auslegung der Bestimmung kann einen Sinn ergeben, der für den historischen Gesetzgeber aufgrund anders gearteter Umstände nicht voraussehbar war und der, vor allem, wenn er mit dem Wortlaut der Bestimmung vereinbar ist, ohne weiteres für deren Anwendung massgebend sein kann (s. BGE 107 Ia 237).

3. Es gilt auch, zu der aufgeworfenen Frage unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben Stellung zu nehmen. Wohl geht es aber im vorliegenden Fall weniger um eine Frage von Treu und Glauben bzw. des Vertrauensschutzes oder des Rechtssicherheitsgebots als vielmehr um ein Auslegungsproblem. Bisweilen wird jedoch auch die Auffassung vertreten, der Grundsatz von Treu und Glauben sei als Regel bei der Gesetzesauslegung und -anwendung zu beachten (s. die bei Weber-Dürler Beatrice, Vertrauensschutz im öffentlichen Recht, Zürich/Basel/Frankfurt a.M. 1983, S. 269, zitierte Rechtsprechung und Lehre). Diese Auffassung stützt sich namentlich auf das Argument, dass die Stimmbürger (und Adressaten) einer Gesetzesvorlage so zustimmen, wie sie diese aufgrund der verfügbaren Informationen und insbesondere der im Verlauf des Vorverfahrens und der parlamentarischen Beratungen gemachten Ausführungen verstehen können. Aufgrund dieser Ausführungen könnte im konkreten Fall wohl in guten Treuen angenommen werden, dass für den Beruf des kaufmännischen Angestellten keine Einführungskurse geschaffen werden müssen. Dieser Umstand, dem im Rahmen der historischen Auslegung indirekt Rechnung getragen wird, kann aber nicht allein ausschlaggebend sein. Massgebend ist letztlich die Abwägung zwischen dem Vertrauensschutzinteresse einerseits und dem öffentlichen Interesse an der Verwirklichung des eigentlichen Gesetzessinnes anderseits (Weber-Dürler, a.a.O., S. 271). Dieser Sinn ergibt sich, wie oben dargelegt, nicht nur aus den Intentionen des historischen Gesetzgebers, sondern ebenso sehr aus einer objektiv-zeitgemässen Auslegung.

Falls das BIGA als zuständige Behörde zum Schluss kommt, dass eine Befreiung vom Einführungskursobligatorium aufgrund der heutigen Verhältnisse im Bereich der kaufmännischen Ausbildung mit dem Sinn dieses Obligatoriums nicht vereinbar ist, kann es das Gesuch des Zentralverbands der Schweizerischen Arbeitergeber-Organisationen ablehnen. Angesichts der Äusserungen des Bundesrates in der Botschaft und vor allem auch der Erklärungen, die die Berichterstatterin im Nationalrat abgegeben hat, muss es einen solchen negativen Entscheid jedoch eingehend begründen. Es muss insbesondere dartun, weshalb die heutigen Verhältnisse eine andere Beurteilung der Zweckmässigkeit des Einführungskursobligatoriums für die kaufmännischen Berufe nahe legen.





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