VPB 55.58A
(Rundschreiben des Bundesamtes für Justiz an die schweizerischen Vertretungen in Frankreich, von November 1991)
Schweizerisch französischer Gerichtsstandsvertrag von 1869: Auswirkungen seiner Aufhebung,
- in einigen Teilbereichen: Vormundschaft, Erbrecht, Schiedswesen, Vollstreckung;
- im Bereich des Konkurswesens: internationales Konkursrecht der Schweiz und Frankreichs, Übergangsrecht (vgl. VPB 55.58B ).
Convention franco-suisse de 1869 sur la compétence judiciaire: conséquences de son abrogation,
- dans quelques domaines particuliers: tutelle, successions, arbitrage, exécution;
- en matière de faillite: droit international suisse et français de la faillite, droit transitoire (voir JAAC 55.58B ).
Convenzione franco-svizzera del 1869 sulla competenza giudiziaria: conseguenze dell'abrogazione,
- in alcuni settori parziali: tutela, diritto successorio, arbitrato, esecuzione;
- in materia di fallimento: diritto internazionale svizzero e francese del fallimento, diritto transitorio (cfr. GAAC 55.58B ).
Aufhebung des Vertrages von 1869 zwischen der Schweiz und Frankreich über den Gerichtsstand und die Vollziehung von Urteilen in Zivilsachen
Lugano Übereinkommen von 1988 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen
A. Allgemeines
Am 1. Januar 1992 wird das Lugano-Übereinkommen vom 16. September 1988 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (LugUe, SR 0.275.11) zwischen der Schweiz, Frankreich und den Niederlanden in Kraft treten.
Das Lugano-Übereinkommen sieht in Art. 55 vor, dass es in seinem Anwendungsbereich (Vertrags- und Gesellschaftsrecht, Haftpflichtrecht und allgemeines Handelsrecht) die zwischen zwei oder mehr Vertragsstaaten geschlossenen Staatsverträge wie jenen zwischen der Schweiz und Frankreich von 1869 ersetzt; diese bleiben nach Art. 56 LugUe nur für Anwendungsbereiche weiter bestehen, die vom Lugano-Übereinkommen nicht abgedeckt werden.
Die vom Lugano-Übereinkommen nicht erfassten, jedoch vom schweizerisch-französischen Staatsvertrag geregelten Bereiche umfassen Einzelfragen der Vormundschaft, des Ehegüterrechts, des Erbrechts, der Anerkennung von Schiedssprüchen, der Rechtshilfe, der Vollstreckung von Zivilurteilen und des Konkurses.
Nach einer Prüfung dieser verbleibenden Bestimmungen haben die Schweiz und Frankreich beschlossen, ihren Vertrag über den Gerichtsstand und die Vollziehung von Urteilen in Zivilsachen vom 15. Juni 1869 (Gerichtsstandsvertrag [GSV]), seine Zusatzakte vom 4. Oktober 1935 sowie sein erläuterndes Protokoll (SR 0.276.193.491) in gegenseitigem Einverständnis aufzuheben.
Die Aufhebung ist auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens des Lugano-Übereinkommens vorgesehen, also auf den 1. Januar 1992.
Die bisher vom Staatsvertrag geregelten Materien unterstehen daher nach dem 1. Januar 1992 den international-privatrechtlichen Regeln des jeweiligen Staates. Für die Schweiz finden sich diese im BG vom 18. Dezember 1987 über das Internationale Privatrecht (IPRG, SR 291). Das internationale Privatrecht Frankreichs ist nur zu einem kleinen Teil kodifiziert und beruht weitgehend auf der Rechtsprechung.
B. Wirkungen der Aufhebung in einigen Teilbereichen
1. Vormundschaft und andere Schutzmassnahmen über Minderjährige
Neu: In beiden Staaten wird diese Materie ausschliesslich durch das Haager Übereinkommen vom 5. Oktober 1961 über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen (MSA, SR 0.211.231.01) geregelt (Art. 85 Abs. 1 IPRG). Grundsatz: Die primäre Zuständigkeit liegt bei den Behörden des Staates des gewöhnlichen Aufenthaltes und nur noch sekundär beim Heimatstaat; die Behörden wenden jeweils ihr eigenes Recht an.
Bisher: Für minderjährige Schweizer Bürger mit Wohnsitz in Frankreich galt die in Art. 10 GSV verankerte Zuständigkeit der Heimatbehörden sowie die Anwendung des Heimatrechts.
2. Vormundschaft über Erwachsene
Neu: Schweizer Bürger in Frankreich unterstehen der französischen Zuständigkeit. Die französischen Behörden wenden das Recht der «loi personnelle» (Staatsangehörigkeit) an.
In der Schweiz wird auf volljährige ausländische Staatsangehörige das MSA analog angewendet (Art. 85 Abs. 2 IPRG): grundsätzliche Zuständigkeit der Behörden am gewöhnlichen Aufenthalt, subsidiäre Zuständigkeit der Heimatbehörden, Anwendung des jeweils eigenen Rechts.
Bisher: Gestützt auf Art. 10 GSV unterstanden Schweizer Bürger in Frankreich der Zuständigkeit der heimatlichen Behörden.
3. Erbrecht
Schweizer Bürger mit Wohnsitz in Frankreich
Neu: Der gesamte bewegliche Nachlass eines Schweizer Bürgers mit Wohnsitz in Frankreich untersteht dem Wohnsitzrecht, d. h. französischem Recht. Liegenschaften in Frankreich unterstehen dem Recht am Lageort, also ebenfalls französischem Recht. Für diese Teile des Nachlasses sind die französischen Behörden zuständig. Schweizerische Erbscheine können in dieser Konstellation nicht mehr ausgestellt werden.
Für in der Schweiz gelegene Liegenschaften betrachten sich die französischen Behörden nicht als zuständig. Es greift daher die Ersatzzuständigkeit der Heimatbehörden gemäss Art. 87 IPRG, welche schweizerisches Recht anwenden (Art. 91 Abs. 1 IPRG); durch letztwillige Verfügung oder Erbvertrag kann ausdrücklich das Recht am letzten Wohnsitz, d. h. französisches Recht vorbehalten werden (Art. 91 Abs. 2 IPRG).
Schweizer Bürger mit Wohnsitz in Frankreich haben gestützt auf Art. 87 Abs. 2 IPRG die Möglichkeit, ihr in der Schweiz gelegenes (bewegliches und unbewegliches) Vermögen durch letztwillige Verfügung oder Erbvertrag
der schweizerischen Zuständigkeit (Behörden des Heimatortes) zu unterstellen: diese wenden schweizerisches Recht an, sofern nicht ausdrücklich das Recht am letzten Wohnsitz vorbehalten wird (Art. 91 Abs. 2 IPRG);
oder dem schweizerischen Recht zu unterstellen: gleichzeitig werden dadurch für diesen Teil des Nachlasses die schweizerischen Behörden des Heimatortes zuständig. Aus französischer Sicht wird die Wahl des schweizerischen Rechts für in Frankreich gelegenes Vermögen nicht anerkannt.
In Ausländernachlässen in Frankreich steht den französischen Erben ein Vorwegnahmerecht zu («droit de prélèvement»). Sie können sich am französischen Teil des Nachlasses den Gegenwert dessen vorwegnehmen, was ihnen vom im Ausland gelegenen Teil des Nachlasses deswegen entgeht, weil sie nach dem örtlichen ausländischen Recht in geringerem Masse zum Zuge kommen, als dies nach französischem Recht der Fall wäre.
Französische Bürger mit Wohnsitz in der Schweiz
Neu: Der Nachlass eines französischen Staatsangehörigen mit Wohnsitz in der Schweiz untersteht der schweizerischen Zuständigkeit (Art. 86 Abs. 1 IPRG) und dem schweizerischen Recht (Art. 90 Abs. 1 IPRG; Rechtswahl zugunsten des Heimatrechts möglich, Art. 90 Abs. 2 IPRG). Für französische Liegenschaften nehmen die französischen Behörden eine ausschliessliche Zuständigkeit in Anspruch (Art. 86 Abs. 2 IPRG); sie wenden das Recht am Lageort, d. h. französisches Recht an.
Es ist darauf hinzuweisen, dass die unterschiedlichen Erbordnungen im französischen und schweizerischen Recht in vielen Konstellationen deutliche Differenzen in den Erbquoten nach sich ziehen.
Bisher: Der bewegliche Nachlass eines Schweizer Bürgers mit Wohnsitz in Frankreich unterstand dem Heimatrecht und der Zuständigkeit der Heimatbehörden. Für die Abwicklung wurden schweizerische Erbscheine benötigt.
4. Schiedswesen
Sowohl Frankreich als auch die Schweiz haben das New Yorker Übereinkommen vom 10. Juni 1958 über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche ratifiziert (SR 0.277.12). Frankreich hat seinen Vorbehalt betreffend die «réserve de commercialité» zurückgezogen, die Schweiz wird ihren Vorbehalt der Gegenseitigkeit als Folge der Verabschiedung des IPRG in Kürze zurückziehen.
5. Rechtshilfe
Der bilaterale Staatsvertrag deckte an sich nur den Zugang zur Rechtspflege. Die bestehenden (oder von der Schweiz noch zu ratifizierenden) multilateralen Instrumente bieten eine genügende und befriedigende Lösung.
6. Vollstreckung
Gemäss den französischen international-privatrechtlichen Grundsätzen wird eine IPR-Nachkontrolle praktiziert werden. Dabei handelt es sich um eine partielle «révision au fond», indem der französische Vollstreckungsrichter zwar nicht (mehr) nachprüft, ob der ausländische urteilende Richter das aus der Sicht des französischen IPR korrekte Recht angewendet hat, aber doch das Resultat am französischen «IPR-Massstab» misst.
7. Konkurs
Das bisherige Prinzip der Einheit und Universalität des Konkurses und der Nachlassverträge gilt unter den vom Staatsvertrag vorgesehenen Bedingungen nicht mehr. Für französische Konkursdekrete gelten neu die Art. 166 ff. IPRG (vgl. nachfolgend Nr. 58B).
Dokumente des BJ