VPB 57.59
(Auszug aus einem Kreisschreiben des Vorstehers des Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement an die kantonalen Regierungen vom 26. Mai 1993)
Art. 6 § 1 EMRK. Geltungsbereich in Zivilsachen. Folgen der Unwirksamerklärung der neuen auslegenden Erklärung, welche die Schweiz 1988 abgegeben hat, durch das BGer.
Schreiben des EJPD an die Kantone.
Art. 6 § 1 CEDH. Champ d'application en matière civile. Conséquences de l'invalidation, par le TF, de la nouvelle déclaration interprétative déposée par la Suisse en 1988.
Lettre du DFJP aux cantons.
Art. 6 § 1 CEDU. Campo d'applicazione in materia civile. Conseguenze della dichiarazione di nullità, da parte del TF, della nuova dichiarazione interpretativa depositata dalla Svizzera nel 1988.
Lettera del DFGP ai Cantoni.
Auslegende Erklärung des Bundesrates vom 29. April 1988 zu Art. 6 § 1 EMRK - Urteil des Bundesgerichts vom 17. Dezember 1992 in Sache F. gegen R. und Regierungsrat des Kantons Thurgau
1. Am 17. Dezember 1992 hat die II. Zivilabteilung des BGer ein vielbeachtetes Urteil gefällt, das für Bund und Kantone von grosser Tragweite ist. Zu beurteilen war unter anderem die (als staatsrechtliche Beschwerde entgegengenommene) Berufung einer Mutter, die sich gegen einen kantonal letztinstanzlichen Entscheid des Regierungsrates des Kantons Thurgau zur Wehr setzte, welcher dem Vater des gemeinsamen Kindes ein Besuchsrecht einräumte[1]. Das BGer kam zum Schluss, dass die im Kanton Thurgau fehlende Möglichkeit, diese Streitigkeit von einem Gericht überprüfen zu lassen, gegen Art. 6 § 1 EMRK verstosse. Diese Bestimmung garantiert dem Betroffenen unter anderem bei Streitigkeiten «über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen» («contestations sur ses droits et obligations de caractère civil», «determination of his civil rights and obligations») den Zugang zu einem unabhängigen, unparteiischen und auf Gesetz beruhenden Gericht, welches die Angelegenheit in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht frei überprüft.
2. Die Bedeutung des Urteils über den zu beurteilenden Fall hinaus liegt darin, dass das BGer zu diesem Ergebnis nur gelangen konnte, weil es zuvor die auslegende Erklärung des Bundesrates zu Art. 6 § 1 EMRK für unwirksam erklärt hat. Der Bundesrat hatte diese Erklärung bekanntlich im Anschluss an das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Sachen Belilos gegen die Schweiz vom 29. April 1988 (publiziert in VPB 52.65 [1988], VPB 52.84, VPB 52.85, VPB 52.86) mit Wirkung ab diesem Datum geändert[2] und dem Europarat, den Erwägungen des Urteils des Gerichtshofs Rechnung tragend, gestützt auf Art. 64 § 2 EMRK auch eine Liste der Bestimmungen übermittelt, die von der neuen auslegenden Erklärung erfasst sein sollten. Neben einigen Bestimmungen des Bundesrechts (OG und VwVG) enthält diese Liste gesamthaft ungefähr 500 Bestimmungen des kantonalen Rechts, welche die kantonalen Justizdepartemente seinerzeit auf Einladung der damaligen Vorsteherin des EJPD zusammengetragen hatten. Nachdem das BGer nun zum Schluss gekommen ist, dass «die auslegende Erklärung des Bundesrates von 1988 als Vorbehalt nicht wirksam ist, weil ein solcher nicht erst nach der Ratifikation der Konvention angebracht werden kann und bis 1988 kein entsprechender gültiger Vorbehalt bestanden hat» (BGE 118 Ia 488 E. 7d) ist davon auszugehen, dass sämtliche der auf der Liste aufgeführten Materien, soweit sie Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen im Sinne von Art. 6 § 1 EMRK betreffen, vom Anwendungsbereich dieser Konventionsbestimmung nicht mehr ausgenommen sind. In all diesen Fällen muss also der Zugang zu einem «Gericht» offen stehen, das den Anforderungen von Art. 6 § 1 EMRK genügt.
3. Gemäss Art. 64 Abs. 3 und Art. 64bis Abs. 2 BV unterstehen die Organisation der Gerichte und das gerichtliche Verfahren in Zivil- und Strafsachen der Kompetenz der Kantone. Andererseits hat aber der Bundesrat, zusammen mit den anderen Organen des Staates, für die Einhaltung der EMRK in der Schweiz zu sorgen. Diese Verpflichtung beinhaltet insbesondere die Suche nach möglichen Unvereinbarkeiten des Verfahrensrechts (auf kantonaler und auf Bundesebene) mit dem europäischen Recht (vgl. sinngemäss VPB 53.54 [1989], S. 423-426).
Vor diesem Hintergrund bittet der Vorsteher des EJPD die Regierungen der Kantone zu prüfen, welche Folgen die Ungültigkeit der auslegenden Erklärung des Bundesrates auf die Gesetzgebung und Praxis ihres Kantons, gegebenenfalls auch der Gemeinden ihres Kantons, mit sich bringt. Bei dieser Prüfung stellen sich zunächst zwei grundsätzliche Fragen:
- Welche Bestimmungen des kantonalen (und gegebenenfalls des kommunalen) Rechts betreffen Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen im Sinne von Art. 6 § 1 EMRK, ohne dass eine gerichtliche Kontrollmöglichkeit vorgesehen wäre?
- Welches sind, das Vorliegen einer solchen Streitigkeit vorausgesetzt, die Anforderungen an ein «Gericht» im Sinne von Art. 6 § 1 EMRK? Zu diesen beiden Fragen einige kurze Bemerkungen:
4. Was den Anwendungsbereich von Art. 6 § 1 EMRK betrifft, ist nach wie vor unsicher, wie der Begriff der «zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen» auszulegen ist. Auch wenn nach wie vor Bereiche verbleiben, deren öffentlichrechtliche Natur bis heute immer bestätigt wurde (z. B. Rechtsverhältnisse aus dem Beamten-, Steuer- oder Ausländer- und Asylrecht oder aus dem Militärwesen, Bildungswesen), ist doch unverkennbar, dass zahlreiche, nach unserem Verständnis ebenfalls dem öffentlichen Recht zugehörigen Rechtsgebiete den Zivilrechtsstreitigkeiten im Sinne von Art. 6 § 1 EMRK unterstellt wurden, und dass weitere folgen werden.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat es bis jetzt immer abgelehnt, eine abstrakte Definition des Begriffs zu formulieren. Hinzu kommt, dass der Aussagewert einzelner Begriffselemente, die in der Rechtsprechung entwickelt wurden, dadurch gemindert wird, dass sie nur bedingt von einem auf den anderen Fall übertragen werden können.
Was bleibt, ist die Möglichkeit, dem Begriff auf Grund einer Analyse der bisher von der Praxis beurteilten Konstellationen näherzukommen. Die Kantone haben im Jahr 1988 eine solche Prüfung vorgenommen, als sie die Liste der Bestimmungen zusammengestellt haben, die der neuen auslegenden Erklärung des Bundesrates zu Art. 6 § 1 EMRK beigelegt wurde. Diese Liste kann auch heute Ausgangspunkt der Prüfung sein, welche Rechtsverhältnisse künftig einer gerichtlichen Beurteilung zu unterstellen sind. Zusätzlich wird jedoch zu klären sein, ob alle und nur die seinerzeit mitgeteilten Bestimmungen betroffen sind. Dabei mag die vom Bundesamt für Justiz (BJ) erstellte Kasuistik[3] behilflich sein, welche die Entwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Bereich der «Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen» nachzeichnet. Was die Umsetzung dieser Rechtsprechung in der schweizerischen Rechtspraxis betrifft, sei auf die reichhaltige Rechtsprechung des BGer verwiesen, das in zahlreichen Entscheiden auf die Strassburger Praxis Bezug genommen und deren Auswirkungen auf vergleichbare schweizerische Konstellationen überprüft hat.
Sprechen in einem konkreten Anwendungsfall überwiegende Gründe für die Subsumtion unter Art. 6 § 1 EMRK, scheint es ratsam, ja unumgänglich, die Möglichkeit einer gerichtlichen Beurteilung zu öffnen. Um der Unsicherheit, die die Strassburger Rechtsprechung hinterlässt, Rechnung zu tragen, wäre im übrigen auch die Möglichkeit zu prüfen, den Zugang zum Gericht von der Anwendbarkeit des Art. 6 § 1 EMRK abhängig zu machen. Diesfalls wäre der Entscheid der Verwaltungsbehörde für endgültig zu erklären unter dem Vorbehalt, dass «Streitigkeiten über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen» im Sinne von Art. 6 § 1 EMRK zu beurteilen sind.
5. Die Anwendbarkeit von Art. 6 § 1 EMRK vorausgesetzt, stellt sich die weitere Frage, welchen Anforderungen das «Gericht» und das von ihm zu befolgende Verfahren genügen muss.
Ohne auf die einzelnen Aspekte einzugehen, sei an dieser Stelle nur daran erinnert, dass die EMRK unter «Gericht» nicht notwendigerweise ein ordentliches Gericht klassischer Natur versteht, das in die herkömmlichen gerichtlichen Einrichtungen integriert sein muss (Urteil i. S. Campbell und Fell, Série A 80, § 76). Gemeint ist vielmehr jede urteilende Behörde rechtsprechender Natur, die sowohl von der Regierungsgewalt als auch von den beteiligten Parteien im konkreten Fall unabhängig ist und die auf der Grundlage einer gesetzlichen Regelung innerhalb ihrer Zuständigkeit und nach Durchführung eines geordneten Verfahrens Entscheidungen zu treffen hat (Urteil i. S. Sramek, Série A 84, § 36). Ob die Unabhängigkeit gewahrt ist, macht die Rechtsprechung insbesondere von folgenden Kriterien abhängig: Art der Bestellung, Amtsdauer, Unabsetzbarkeit während dieser Dauer, Weisungsungebundenheit, Schutz vor Druck von aussen sowie der Frage, ob dem betreffenden Organ nach seinem äusseren Erscheinungsbild Unabhängigkeit zukommt (vgl. etwa Urteil i. S. Campbell und Fell, a.a.O., § 78 ff.; Le Compte, van Leuwen und De Meyere, Série A 43, § 80; Langborger, Série A 155, § 32; Belilos, Série A 132 und VPB 52.65, § 64 ff., insb. § 67 zum «Erscheinungsbild der Unabhängigkeit»).
Unter diesen Kriterien nimmt die Weisungsungebundenheit sicher den bedeutendsten Platz ein. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs lässt den Schluss zu, dass durch wirkliche Freiheit in der (nicht zu kurz bemessenen) Amtsausübung allfällige Abhängigkeiten, die durch Bestellung und Funktion der Mitglieder geschaffen wurden, wettgemacht werden können. In diesem Sinn wurde etwa die Unabhängigkeit einer «Agrar-Bezirksbehörde» beziehungsweise des «Obersten Agrarsenats» in Österreich bejaht, obwohl sich diese Behörden zur Mehrheit aus Mitgliedern der Verwaltung sowie aus drei Fachvertretern zusammensetzten (Urteil i. S. Ettl, Série A 117, § 38; vgl. auch Urteile i. S. Sramek, a.a.O., § 41 und i. S. Ringeisen, Série A 13, § 95 ff.); dasselbe gilt für einen vom britischen Innenminister ernannten Überwachungsausschuss, der Disziplinarverstösse in Gefängnissen zu beurteilen hatte (Urteil i. S. Campbell und Fell, a.a.O., § 77, 79) oder für den «Conseil de l'Ordre des avocats» in Belgien, einem zur Mehrheit aus Fachvertretern (Anwälten) bestehenden Ausschuss zur Ahndung von Disziplinarverstössen (Urteil i. S. H., Série A 127, § 51; vgl. auch Urteil i. S. Le Compte, van Leuwen, De Meyere, a.a.O., § 58).
Zu ergänzen bleibt in diesem Zusammenhang, dass die Konvention, auch wo sie eine gerichtliche Beurteilung verlangt, die vorgängige Beurteilung durch eine (oder sogar mehrere) Verwaltungsbehörde(n) nicht ausschliesst. Voraussetzung ist aber, dass durch diese Vorschaltung nicht-richterlicher Instanzen die nach Art. 6 § 1 zulässige Dauer des Verfahrens nicht überschritten wird und dass die Sache anschliessend in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht von einer richterlichen Behörde frei überprüft werden kann (vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen der Europäischen Kommission für Menschenrechte im Entscheid über die Zulässigkeit der Beschwerde Nr. 10148/82, Garcia gegen die Schweiz [ebenfalls betr. Besuchsrecht], VPB 49.89 [1985], S. 477, 2. Absatz).
6. Abgesehen von den in den beiden vorstehenden Ziffern angesprochenen Problemen stellt sich bei der Umsetzung des Urteils des BGer eine Reihe weiterer Fragen, von denen hier nur zwei angeschnitten seien.
a. Sowenig Art. 6 § 1 EMRK die sofortige Beurteilung von Zivilrechtsstreitigkeiten durch ein Gericht verlangt (siehe oben Ziff. 5 am Ende), sowenig ist erforderlich, dass die Streitsache von mehreren, den Anforderungen an ein Gericht genügenden Instanzen beurteilt werden muss: die Rechtsprechung sieht die einmalige richterliche Prüfung grundsätzlich als genügend an. Von daher schiene es prinzipiell auch nicht ausgeschlossen, allein dem BGer die Aufgabe zuzuweisen, ein Art. 6 § 1 EMRK genügendes Verfahren sicherzustellen, wenn die Streitsache auf kantonaler Ebene noch von keinem Gericht beurteilt worden ist. Der Bund hatte ja seinerzeit bei der Erstellung der Liste der von der neuen auslegenden Erklärung des Bundesrates betroffenen Bestimmungen unter anderem die Art. 43 Abs. 2 und Art. 68 sowie Art. 84 OG vorbehalten (Berufung und zivilrechtliche Nichtigkeitsbeschwerde, soweit die Kognition des BGer bezüglich Tatfragen beschränkt ist und keine kantonale Gerichtsinstanz den Sachverhalt frei überprüft hat; staatsrechtliche Beschwerde, soweit die kantonalen Behörden und das BGer Tat- und Rechtsfragen nur mit beschränkter Kognition überprüfen können).
Eine solche Lösung ist jedoch nicht angezeigt. Dabei sind weitgehend dieselben Gründe ausschlaggebend, die den Bundesrat seinerzeit bewogen hatten, eine Motion Zimmerli (90.568) abzulehnen. Diese hatte die Einführung einer Bestimmung in das OG vorgeschlagen, wonach die Verwaltungsgerichtsbeschwerde auch gegen Verfügungen gemäss Art. 99-101 OG zulässig sein sollte, soweit diese Verfügungen zivilrechtliche Ansprüche oder Verpflichtungen oder strafrechtliche Anklagen im Sinne von Art. 6 § 1 EMRK betreffen und nicht von einer richterlichen Behörde beurteilt wurden. Der Bundesrat hat damals ausgeführt, dass bereits in 23 Kantonen ein Verwaltungsgericht bestehe und dessen Einführung auch in den drei anderen Kantonen eine Notwendigkeit darstelle, dass es einen unterschiedlichen Standard im Rechtsschutz, je nachdem ob im Kanton eine Verwaltungsbehörde oder ein Gericht entscheidet, zu vermeiden gelte, dass der Rechtsschutz durch eine zweistufige Rechtskontrolle verstärkt werde, dass nur mit der kantonalen Zuständigkeit das föderalistische Prinzip und die kantonale Verfahrenshoheit gewahrt würden, und schliesslich, dass dem BGer ein weiterer und vermeidbarer Anstieg seiner Geschäftslast erspart werden müsse (vgl. Amtl. Bull. S 1990 693 ff.).
All diese Gründe lassen auch im vorliegenden Zusammenhang eine «kantonale Lösung» als die einzig sinnvolle erscheinen.
b. Je nach Kanton sind vom Wegfall der auslegenden Erklärung des Bundesrates Rechtsverhältnisse aus nur einem oder aber aus mehreren, zum Teil sehr verschiedenartigen Gebieten betroffen. Je zahlreicher diese Gebiete sind, desto mehr scheinen sich - nicht zuletzt aus den oben Ziff. 5 dargelegten Gründen - punktuelle Lösungen aufzudrängen, die für jedes Gebiet eine auf die jeweiligen Verhältnisse zugeschnittene richterliche Behörde für zuständig erklären würden.
Auch hier sollte jedoch eine andere Lösung nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Sie bestünde darin, dass sämtliche Zivilrechtstreitigkeiten, für deren Beurteilung bisher kein Gericht zuständig war, der Gerichtsbarkeit einer, gegebenenfalls zweier gerichtlicher Instanzen (etwa eines Zivilgerichts für die eigentlichen privat-rechtlichen Streitigkeiten, des Verwaltungsgerichts für alle übrigen) unterstellt würden.
7. Abschliessend gibt der Vorsteher des EJPD noch seinem Wunsch Ausdruck, dass die notwendigen Anpassungen rasch vorgenommen werden mögen. Die Zeit drängt. Angesichts seiner bisherigen Rechtsprechung ist auch nicht zu erwarten, dass das BGer, mit der Rüge der Verletzung von Art. 6 § 1 wegen fehlender gerichtlicher Überprüfung befasst, selbst «einspringen» würde, um ein den Anforderungen der Konvention genügendes Verfahren sicherzustellen. Unser höchstes Gericht hat in solchen Fällen vielmehr wiederholt die Kantone dazu angehalten, ihr Organisations- und Verfahrensrecht diesen Anforderungen anzupassen (vgl. etwa BGE 114 Ia 19, BGE 114 Ia 127 f.; BGE 115 Ia 72, BGE 115 Ia 187; BGE 116 Ia 65 f.; BGE 116 Ib 174; BGE 118 Ia 227).
In diesem Zusammenhang ist schliesslich auch an Ziff. 1 Abs. 1 und 2 der Schlussbestimmungen zur Revision des OG zu erinnern. Im Rahmen dieser Revision wurde in Art. 98a OG die Vorschrift aufgenommen, dass die Kantone richterliche Behörden als letzte kantonale Instanzen bestellen, soweit gegen deren Entscheid unmittelbar die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das BGer zulässig ist. Für den Erlass der entsprechenden kantonalen Bestimmungen über Zuständigkeit, Organisation und Verfahren dieser richterlichen Behörden stellt Ziff. 1 Abs. 1 der Schlussbestimmungen zwar eine Frist bis zum 15. Februar 1997 auf; Abs. 2 bestimmt jedoch, dass die Kantone die Ausführungsbestimmungen bis zum Erlass der Ausführungsgesetzgebung «nötigenfalls und vorläufig in die Form nicht referendumspflichtiger Erlasse kleiden» können (vgl. auch Art. 52 Abs. 2 SchlT ZGB). Es wird zu prüfen sein, ob und gegebenenfalls inwieweit die Kantone von dieser Möglichkeit auch im vorliegenden Zusammenhang Gebrauch machen könnten.
Der Ausbau der richterlichen Kontrolle verbessert nicht nur den Rechtsschutz der Betroffenen, sondern er bringt auch einen Gewinn an Rechtstaatlichkeit ein, der letztlich höher zu bewerten ist als das - an sich berechtigte - Anliegen, an einer historisch gewachsenen Behördenorganisation festzuhalten.
Beilage
Art. 6 § 1 EMRK: Begriff der «zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen»
(«contestations sur les droits et obligations de caractère civil», «determination of civil rights and obligations»)
Im Urteil Ringeisen hat der Gerichtshof für Menschenrechte am 16. Juli 1971 festgestellt, dass dieser Begriff jedes Verfahren betrifft, dessen Ausgang für den Bestand von Rechten und Verpflichtungen von privatrechtlichem Charakter entscheidend ist (Serie A 13, § 4). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes kann der Begriff der «zivilrechtlichen Ansprüche» «nicht allein unter Bezug auf das inländische Recht des belangten Staates interpretiert werden» (Urteil König, Serie A 27, S. 29-30, § 88-89, zitiert gemäss EuGRZ 1978, S. 415 f.). Die Qualifikation nach dem entsprechenden nationalen Recht ist nur ein Ausgangspunkt. «Ob ein Rechtsanspruch als zivil-rechtlich (…) anzusehen ist, bestimmt sich zwar nicht nach seiner juristischen Bezeichnung im inländischen Recht, aber in der Tat nach dem materiellen Gehalt und den Rechtsfolgen, die dieser Anspruch im Recht des betroffenen Staates hat. Bei der Ausübung seiner Kontrollfunktion muss der Gerichtshof überdies Ziel und Zweck der Konvention ebenso wie die nationalen Rechtssysteme der übrigen Vertragsstaaten berücksichtigen.» Der Gerichtshof legt diesen Begriff somit autonom aus.
Allerdings hat es der Gerichtshof bisher unterlassen, allgemein und abstrakt zu definieren, was er unter «zivilrechtlichen Ansprüchen und Verpflichtungen» versteht. Aus diesem Grund lässt sich der Versuch, den Anwendungsbereich dieses Begriffs einzugrenzen, nur unter Berücksichtigung der konkreten Falllösungen des Gerichtshofes vornehmen, in welchen er die genannten Prinzipien angewendet hat. So hat der Gerichtshof «privatrechtlichen Charakter» insbesondere zuerkannt
- dem Recht auf Zustimmung zu einer Grundstücksübertragung durch die zuständige Verwaltungsbehörde (Urteil Ringeisen, Serie A 13),
- dem Recht eines Häftlings auf Schadenersatz wegen Ehrverletzung durch die Gefängnisleitung (Urteil Golder, Serie A 18; EuGRZ 1975, S. 91 ff.),
- dem Recht, eine Privatklinik zu betreiben (Entzug der Bewilligung) (Urteil König, Serie A 27; EuGRZ 1978, S. 406 ff.),
- dem Recht auf gerichtliche Trennung (Urteil Airey, Serie A 32; EuGRZ 1979, S. 626 ff.),
- der mit einem fürsorgerischen Freiheitsentzug verbundenen Beschränkung der Geschäftsfähigkeit (Urteil Winterwerp, Serie A 33; EuGRZ 1979, S. 650 ff.),
- dem Recht auf weitere Ausübung eines freien medizinischen Berufes nach Erhalt der erforderlichen Erlaubnisse (Disziplinarsanktionen in Form eines befristeten oder endgültigen Berufsausübungsverbots) (Urteil Le Compte, Van Leuven und De Meyere, Serie A 43; EuGRZ 1981, S. 551 ff. und Urteil Albert et Le Compte, Serie A 58; EuGRZ 1983, S. 190 ff.),
- den Eigentumsrechten (Enteignungsverfahren, eigentumsrechtliche Streitigkeiten, aus der Enteignungsgenehmigung fliessender Schaden und Feststellung der Höhe des Schadenersatzes) (Urteil Sporrong und Lönnroth, Serie A 52; EuGRZ 1983, S. 523 ff.),
- dem Recht eines Häftlings, im Hinblick auf eine Zivilklage gegen die Gefängnisleitung einen Anwalt zu konsultieren (Urteil Silver u.a., Serie A 61; EuGRZ 1984, S. 147 ff.),
- dem Anspruch auf formelle Enteignung von nachbarrechtlichen Abwehransprüchen von Anrainern eines Flughafens (Urteil Zimmermann und Steiner, Serie A 66 und VPB 47.150 C und VPB 47.236; EuGRZ 1983, S. 482 ff.),
- dem Recht auf Entschädigung des durch einen Verkehrsunfall erlittenen Schadens (Urteil Axen, Serie A 72; EuGRZ 1985, S. 225 ff. und Urteil Guincho, Serie A 81; EuGRZ 1985, S. 637 ff.),
- der Streitigkeit betreffend behördlicher Zustimmung zu einem Grundstückserwerb durch Ausländer (Urteil Sramek, Serie A 84; EuGRZ 1985, S. 336 ff.),
- der Anfechtung der Vaterschaft eines während der Ehe geborenen Kindes (Urteil Rasmussen, Serie A 87; EuGRZ 1985, S. 511 ff.),
- dem Recht eines Garagisten, eine Flüssiggasanlage zu betreiben (Urteil Benthem, Serie A 97 und VPB 50.97; EuGRZ 1986, S. 299 ff.),
- der den Mietern gesetzlich eingeräumten Option, ihre Wohnung unter bestimmten Bedingungen zu erwerben (Urteil James u.a., Serie A 98; EuGRZ 1988, S. 341 ff.),
- dem Recht auf Bezug von Krankengeldern (Urteil Feldbrugge, Serie A 99; EuGRZ 1988, S. 14 ff.),
- dem Recht auf eine die Leistungen einer Unfallversicherung ergänzende Hinterbliebenenrente (Urteil Deumeland, Serie A 100 und VPB 50.98; EuGRZ 1988, S. 20 ff.),
- dem Recht auf Entschädigung der Aktionäre einer verstaatlichten Gesellschaft (Urteil Lithgow u.a., Serie A 102; EuGRZ 1988, S. 350 ff.),
- dem Recht eines Eigentümers, sein Haus zu bewohnen (Verweigerung der dafür erforderlichen Niederlassungsbewilligung auf der Insel Guernsey) (Urteil Gillow, Serie A 109),
- der Streitigkeit betreffend Flurbereinigung (Zusammenlegung von landwirtschaftlichen Grundstücken) (Urteil Ettl u.a., Serie A 117, Urteil Erkner und Hofauer, Serie A 117 und Urteil Poiss, Serie A 117),
- dem Anspruch auf Achtung des Familienlebens (Besuchsrecht) (Urteil O., Serie A 120, Urteil H., Serie A 120, Urteil W, Serie A 121 [EuGRZ 1990, S. 553 ff.], Urteil B., Serie A 121 und Urteil R., Serie A 121),
- dem Recht auf Entschädigung für einen durch fehlerhaftes Handeln der Behörden entstandenen Schaden (zivilrechtliche Verantwortlichkeit gegenüber dem Staat) (Urteil Baraona, Serie A 122),
- der Streitigkeit betreffend Widerruf einer Kraftfahrlinienkonzession (Urteil Pudas, Serie A 125-A; EuGRZ 1988, S. 448 ff.),
- dem Beschwerdeverfahren gegen eine Enteignungsbewilligung (Urteil Bodén, Serie A 125-B; EuGRZ 1988, S. 452 ff.),
- dem Recht eines unehelichen Kindes, in bezug auf die Zuweisung eines landwirtschaftlichen Grundstücks auf dem Wege der Intestaterbfolge mit ehelichen Kindern gleichgestellt zu werden (Urteil Inze, Serie A 126),
- dem Verfahren um Wiederaufnahme in die Liste der zugelassenen Anwälte nach Streichung wegen disziplinarischer Verfehlungen (Urteil H., Serie A 127-B),
- der zivilrechtlichen Verantwortlichkeitsklage gegen den Staat vor Verwaltungsgerichtsbehörden (Urteil Neves e Silva, Serie A 153-A),
- der Streitigkeit über das Bestehen einer Vereinbarung über die Ausgestaltung von Mietverträgen durch den Mieter- und den Vermieterverband (Urteil Langburger, Serie A 155),
- dem Widerruf einer Bewilligung zum Alkoholausschank (Urteil Tre Traktörer Aktiebolag, Serie A 159),
- der zivilrechtlichen Verantwortlichkeitsklage gegen ein öffentliches Spital vor Verwaltungsbehörden (Weigerung des Beklagten, einen medizinischen Experten zu stellen) (Urteil H., Serie A 162-A),
- den Streitigkeiten bezüglich der Verlängerung eines Bauverbots auf einem Grundstück, für welches ein Bebauungsplan und ein Flächennutzungsplan gelten, wonach das Gebiet grundsätzlich der Öffentlichkeit zur Verfügung steht (Urteil Allan Jacobsson, Serie A 163),
- dem zwangsweisen Weiterverkauf eines bei einer Zwangsversteigerung erworbenen landwirtschaftlichen Anwesens (Urteil Hâkansson und Sturesson, Serie A 171; EuGRZ 1992, S. 5 ff.),
- der Beschwerde von Anrainern gegen Lärmbelästigung eines internationalen Flugplatzes (Urteil Powell und Rayner, Serie A 172),
- der Streitigkeit betreffend Änderungen eines Bebauungsplanes, welche Beschränkungen des Rechts des Beschwerdeführers zur Erstellung von Bauten auf seinem Grundstück bewirkten (Urteil Mats Jacobsson, Serie A 180-A),
- der Verweigerung einer Ausnahmebewilligung von einem Plan, der eine Überbauung im konkreten Fall nur in einem bestimmten Gebiet eines Grundstücks ermöglicht hätte (Urteil Skärby, Serie A 180-B),
- der Mitwirkung eines Opfers eines Verbrechens im Strafverfahren als assistente (eine Art Zivilpartei gemäss den portugiesischen Spezialbestimmungen), welche die Geltendmachung von Schadenersatz ermöglicht (Urteil Moreira de Azevedo, Serie A 189),
- der Streitigkeit betreffend den Widerruf einer Bewilligung zur Ausbeutung von Kies (Urteil Fredin, Serie A 192),
- den von der öffentlichen Hand (gemäss königlichem Dekret über die Entschädigungszahlungen an Ingenieure) geschuldeten Honoraransprüchen eines Privaten (Urteil Philis, Serie A 209),
- der mit einem Ehrverletzungsprozess verbundenen Zivilklage auf symbolischen Schadenersatz (Urteil Helmers, Serie A 212-A),
- dem Flurbereinigungsverfahren (Urteil Wiesinger, Serie A 213),
- der Streitigkeit betreffend eine Verfügung, welche ein landwirtschaftliches Gut unter Naturschutz stellt (Urteil Oerlemans, Serie A 219),
- dem Recht auf Bezug einer Invaliditätsrente beim Istituto Nazionale della Previdenza Sociale in Italien (bspw. Urteile Nibbio, Serie A 228-A, Borgese, Serie A 228-B, Biondi, Serie A 228-C, Monaco, Serie A 228-D und Lestini, Serie A 228-E),
- dem Anspruch eines Zeitungsverlages auf Ersatz des Schadens gegenüber dem Staat wegen Verweigerung der Gewährung von steuerlichen und postalischen Erleichterungen, welche die Behörden Konkurrenzbetrieben zugestanden hatten (Urteil Editions Périscope, Serie A 234-B),
- dem Schadenersatzanspruch eines Bluters, welcher aufgrund von Bluttransfusionen durch den HIV-Virus angesteckt wurde, gegen den Staat, der für die Reglementierung der Vornahme von Bluttransfusionen verantwortlich ist (Urteil X., Serie A 234-C),
- dem Recht des Zivilklägers in einem Strafverfahren auf Ersatz des durch das Vergehen entstandenen Schadens (Urteil Tomasi, Serie A 241-A),
- dem Recht auf Rückerstattung der einbezahlten Beiträge einer Altersversicherung der Landeskasse der Notare (Urteil Salerno, Serie A 245-D),
- dem Recht eines Beamten auf eine Pension gemäss geltendem Recht (Urteile Francesco Lombardo, Serie A 249-B und Giancarlo Lombardo, Serie A 249-C),
- der Streitigkeit betreffend eine Allgemeinverfügung, nach welcher ein Gelände im öffentlichen Interesse als besondere landschaftliche Schönheit unter Schutz gestellt wird (Urteil de Gouffre de la Pradelle, Serie A 253-B),
- dem Gesuch um Bewilligung zur Ausübung des Arztberufes als Selbständigerwerbender (Urteil Kraska, Serie A 255-B). Stand: 26. April 1993
[1] BGE 118 Ia 473.
[2] Vgl. AS 1988 1264.
[3] Vgl. Beilage unten.
Dokumente des EJPD