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 Bund Verwaltungspraxis der Bundesbehörden

bund/vpb/58-66.html 

VPB 58.66

(Bundesamt für Justiz, 6. September 1993)


Regeste Deutsch
Résumé Français
Regesto Italiano
 
Fragestellung
 
Ausführungen
1 . Zur Übernahme weiterer Kosten nach Art. 3 Abs. 4 OHG
1.1 Zur Entstehungsgeschichte von Art. 3 Abs. 4 OHG
1.2 Vorgehen und Abgrenzung zur Entschädigung nach Art. 11 ff. OHG
1.3 Zum Übergangsrecht
 

Opferhilfe. Übernahme weiterer Kosten.

Art. 3 Abs. 4 OHG. Art. 12 OHV, Übergangsrecht .

Aus der Entstehungsgeschichte von Art. 3 OHG geht klar hervor, dass die Übernahme von Anwaltskosten über Art. 3 (und nicht etwa über Art. 11 ff. OHG) erfolgen soll. Diese Form der Hilfe durch Beratung kann auch dann beansprucht werden, wenn die Tat vor dem Inkrafttreten des OHG begangen wurde.


Aide aux victimes d'infractions. Prise en charge d'autres frais.

Art. 3 al. 4 LAVI. Art. 12 OAVI, droit transitoire.

La genèse de l'art. 3 LAVI montre clairement que la prise en charge de frais d'avocat est régie par cette disposition (et non par les art. 11 ss LAVI). Cette forme d'aide dispensée par les centres de consultation peut également être sollicitée lorsque l'acte a été commis avant l'entrée en vigueur de la LAVI.


Aiuto alle vittime di reati. Assunzione di altre spese.

Art. 3 cpv. 4 LAV. Art. 12 OAVI, diritto transitorio.

Dalla genesi dell'art. 3 LAV risulta chiaramente che l'assunzione delle spese di avvocato è disciplinata da detto disposto (e non dagli art. 11 e segg. LAV). Questa forma di aiuto prestato dai consultori può essere pretesa anche se il reato è stato commesso prima dell'entrata in vigore della LAV.




Dem Bundesamt für Justiz (BJ) wurde die Frage unterbreitet, ob Anwaltskosten aus einem vor Inkrafttreten des Bundesgesetzes vom 4. Oktober 1991 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz [OHG], SR 312.5, AS 1992 2465) abgeschlossenen Verfahren von der Beratungsstelle zu übernehmen seien.

1. Zur Übernahme weiterer Kosten nach Art. 3 Abs. 4 OHG

Nach dem Opferhilfegesetz hat jedes Opfer Anspruch auf die Hilfe der Beratungsstellen. Deren Leistungen und die Soforthilfe Dritter sind unentgeltlich. Die Beratungsstellen übernehmen weitere Kosten, wie Arzt-, Anwalts- und Verfahrenskosten, soweit dies aufgrund der persönlichen Verhältnisse des Opfers angezeigt ist (Art. 3 Abs. 4 OHG). Die Opfer können sich an eine Beratungsstelle ihrer Wahl wenden (Art. 3 Abs. 5 OHG). Ab Inkrafttreten des Opferhilfegesetzes können alle Opfer von Straftaten die Hilfe der Beratungsstellen in Anspruch nehmen (Art. 12 Abs. 1 der Verordnung vom 18. November 1992 über die Hilfe an Opfer von Straftaten [Opferhilfeverordnung, OHV], SR 312.51).

1.1 Zur Entstehungsgeschichte von Art. 3 Abs. 4 OHG

Der Vorentwurf vom 12. August 1986 zum Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten gegen Leib und Leben (VE) befasste sich im Abschnitt betreffend Schutz und Rechte des Opfers im Strafverfahren mit den Kosten eines Anwalts. Art. 10 lautete wie folgt:

«Art. 10 Beistand und Vertretung

1Das Opfer kann einen Anwalt beiziehen, wenn es sich am Strafverfahren beteiligt. Wird es nur als Zeuge oder als Auskunftsperson befragt, so kann es sich durch einen Anwalt oder eine Beratungsstelle verbeiständen lassen.

2Die Beratungsstellen übernehmen die Kosten für den Anwalt ganz oder teilweise, wenn:

a. dieser für die Wahrung der Interessen des Opfers erforderlich ist;

b. die Kostenübernahme aufgrund der persönlichen Verhältnisse des Opfers billig erscheint;

c. weder der Täter dafür aufkommt noch unentgeltliche Rechtspflege gewährt wird.»

Art. 12 VE regelte die Verfahrenskosten, die Parteientschädigung und den Kostenvorschuss.

Der Vorschlag, der Staat solle für die Opfer in einem über die unentgeltliche Rechtspflege nach kantonalem Recht und der Rechtsprechung zu Art. 4 BV hinausgehenden Mass die Kosten übernehmen, wurde in der Vernehmlassung kontrovers aufgenommen. Sowohl die Befürworter als auch die Gegner wünschten aber eine klarere Abgrenzung zwischen dem Anspruch auf unentgeltliche Prozessvertretung nach kantonalem Recht und der Übernahme der Anwaltskosten nach Opferhilfegesetz. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass nach Art. 10 Abs. 2 Bst. c VE das bedürftige Opfer, dem ein (oft mit einer Rückzahlungsverpflichtung verbundener) kantonalrechtlicher Anspruch auf unentgeltliche Prozessvertretung zusteht, nach der Regelung verschiedener Kantone schlechter fährt als ein begütertes Opfer, das die Anspruchsvoraussetzungen der unentgeltlichen Rechtspflege nicht erfüllt und dessen Anwalt daher von der Beratungsstelle bezahlt wird.

Der Bundesrat schlug vor, die Problematik im Abschnitt betreffend die Beratung zu regeln. Art. 3 Abs. 4 des bundesrätlichen Entwurfes (BBl 1990 II 1010) lautete:

«4Die Leistungen der Beratungsstellen und die Soforthilfe Dritter sind unentgeltlich. Die Beratungsstellen übernehmen die Kosten für weitere Leistungen Dritter, wie Arzt- und Anwaltskosten, soweit das aufgrund der persönlichen Verhältnisse des Opfers angezeigt ist.»

In seiner Botschaft vom 25. April 1990 zu einem Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten (BBl 1990 II 961 ff., S. 979) wies der Bundesrat darauf hin, dass die juristische Hilfe nach Art. 3 Abs. 2 Bst. a eine erste Beratung, die Begleitung im Strafverfahren sowie die Hilfe bei der Geltendmachung der Entschädigung und Genugtuung nach diesem Gesetz umfasse. Er fuhr fort: «Sie schliesst im weiteren Rechtsbeistand bei der Durchsetzung der Zivilansprüche ein, sei es bei der adhäsionsweisen Geltendmachung im Strafprozess (Art. 8 und 9), sei es in einem selbständigen Zivilprozess, bei der Zwangsvollstreckung oder bei einem aussergerichtlichen Verfahren. Sie kann auch in der Übernahme der Kosten für den Rechtsanwalt des Opfers bestehen.» Zu Abs. 4 führte er aus (a.a.O., S. 979): «Die Tätigkeit der Stelle selbst und die Soforthilfe sollen unentgeltlich sein. Soweit es die persönliche Situation des Opfers rechtfertigt, wird die Stelle auch verpflichtet, die Kosten für Leistungen Dritter zu übernehmen, die nicht von der Soforthilfe eingeschlossen sind, so etwa die Kosten für die medizinische Versorgung oder für den Rechtsbeistand (etwa wenn der Täter nicht für die Kosten aufkommt und das Opfer keinen Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand hat).»

In der vorberatenden Kommission des Nationalrates wurde beantragt, wieder eine Regelung zur Frage der Übernahme der Verfahrenskosten vorzusehen. Die Kommission schlug dem Nationalrat folgende, die Verfahrenskosten miteinbeziehende Fassung von Art. 3 Abs. 4 zweiter Satz vor:

«Die Beratungsstellen übernehmen weitere Kosten, wie Arzt-, Anwalts- und Verfahrenskosten, soweit dies aufgrund der persönlichen Verhältnisse des Opfers angezeigt ist.»

In der Kommission wurden zwei Vorteile dieser Formulierung erwähnt: Einerseits gilt nach diesem Vorschlag für Verfahrens- und Anwaltskosten das Gleiche. Anderseits erübrigte sich mit dieser Bestimmung, welche die Finanzierung der Verfahrens- und Anwaltskosten über die Beratungsstellen ermöglicht, eine Regelung über die unentgeltliche Prozessführung. Eine solche hätte zu einem weiteren Eingriff in die kantonalen Prozessordnungen geführt.

Nationalrat (Amtl. Bull. N 1991 16, 1278 und 2036) und Ständerat (Amtl. Bull 1991 S 587, 921) stimmten dem Vorschlag ohne Diskussion zu. Er ist damit zu geltendem Recht geworden.

1.2 Vorgehen und Abgrenzung zur Entschädigung nach Art. 11 ff. OHG

Im Einzelfall ist bei einem Gesuch um Übernahme von Anwaltskosten wie folgt vorzugehen:

Sind die Voraussetzungen für die unentgeltliche Prozesspflege nach kantonalem Recht oder nach der Rechtsprechung zu Art. 4 BV erfüllt, muss die Beratungsstelle die Anwaltskosten übernehmen. Ist dies nicht der Fall, muss sie aufgrund der persönlichen Verhältnisse des Opfers entscheiden. In beiden Fällen besteht keine Rückerstattungspflicht. Dem Opfer bleibt es unbenommen, die voraussichtlichen Kosten für die Verbeiständung als Schaden in einem Gesuch um Entschädigung geltend zu machen. Ein solches Gesuch muss innert zwei Jahren nach der Straftat bei der zuständigen Behörde eingereicht werden (Art. 16 Abs. 3 OHG). Im Zusammenhang mit dieser kurzen Verwirkungsfrist wurde schon bei den Vorarbeiten zum Gesetz darauf hingewiesen, dass die Beratungsstellen das Opfer gegebenenfalls zur Einreichung eines Gesuches anregen und ihm dabei behilflich sein werden (Art. 21 VE und Schlussbericht der Studienkommission zur Ausarbeitung eines Vorentwurfs zum Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten gegen Leib und Leben vom 23. Dezember 1986, S. 129; Art. 15 des bundesrätlichen Entwurfs und Botschaft, a.a.O., S. 994). Übernimmt die Beratungsstelle die Kosten des Anwalts, entfällt der Schaden. Andernfalls müsste - falls ein entsprechendes Gesuch fristgerecht eingereicht worden ist - die Entschädigungsbehörde entscheiden, ob es sich bei diesen Auslagen um einen durch die Straftat verursachten Schaden handelt.

1.3 Zum Übergangsrecht

Die Hilfe der Beratungsstellen kann auch dann beansprucht werden, wenn die Straftat vor dem Inkrafttreten des Opferhilfegesetzes begangen wurde (Art. 12 Abs. 1 OHV). Die Beratungsstellen stehen - ungeachtet des Zeitpunkts der Begehung der Tat - allen Personen offen, die Opfer einer Straftat geworden sind; auch wer vor Inkrafttreten des Opferhilfegesetzes Opfer geworden ist, kann sich an eine Beratungsstelle wenden (vgl. Kurzkommentar zur Verordnung über die Hilfe an Opfer von Straftaten vom 20. November 1992, nicht publiziert). Der Verordnungsgeber hat damit keine Rückwirkung des neuen Gesetzes angeordnet (Rückwirkung liegt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts nur dann vor, wenn bei der Anwendung des neuen Rechts an ein Ereignis angeknüpft wird, das in der Vergangenheit liegt und vor Erlass des Gesetzes abgeschlossen wird, vgl. BGE 113 Ia 425). Er hat vielmehr die Aufgaben der Opferberatung in der Zukunft präzisiert: Die Opferberatungsstellen sollen auch Opfern von Taten, die vor Inkrafttreten begangen wurden, bei der Bewältigung der noch andauernden Folgen der Tat behilflich sein. Die Beratungsstellen müssen sich ab Inkrafttreten des Gesetzes auch um Opfer früher begangener Straftaten kümmern. Unentgeltliche Soforthilfe ist in diesen Fällen nicht mehr möglich. Die Beratungsstellen können nur noch mittel- und langfristige Hilfe anbieten. Ziehen sie dazu Dritte bei, muss das Opfer je nach persönlichen Verhältnissen die Kosten ganz oder teilweise selbst tragen.

Wenn vor Inkrafttreten des Opferhilfegesetzes Kosten für die Hilfe Dritter entstanden, die nach Inkrafttreten fällig werden, bildet die finanzielle Belastung für das Opfer eine Folge der Straftat, welche Wirkungen in der Gegenwart zeitigt. Das Opfer darf sich für die Lösung solcher finanzieller Probleme an die Beratungsstelle wenden. Die Beratungsstelle muss aufgrund der persönlichen Verhältnisse entscheiden, ob sie solche Kosten übernimmt oder nicht. Dass die Kosten vor Inkrafttreten des Opferhilfegesetzes entstanden sind, ist irrelevant. Art. 12 Abs. 3 OHV gilt nur für die dort genannten finanziellen Leistungen (Entschädigungen und Genugtuungen); für alle Bereiche und Arten der Beratung gilt Art. 12 Abs. 1 OHV. Allfällige aus dieser Regelung entstehende finanzielle Engpässe werden gemildert, indem der Bund den Kantonen während der ersten sechs Jahre nach Inkrafttreten des Opferhilfegesetzes Aufbauhilfen ausrichtet.





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