VPB 58.69
(Bundesamt für Justiz, 7. Juli 1993)
Opferhilfe.
Art. 5 Abs. 3 OHG. Ausschluss der Öffentlichkeit.
- Darf das kantonale Recht eine Sonderregelung für die Presse vorsehen?
- Muss das Gericht dem Antrag des Opfers auf Ausschluss der Öffentlichkeit auch dann folgen, wenn das Opfer an der Gerichtsverhandlung nicht teilnimmt?
Aide aux victimes d'infractions.
Art. 5 al. 3 LAVI. Huis clos.
- Le droit cantonal peut-il prévoir un régime spécial pour la presse?
- Le tribunal doit-il donner suite à la demande de la victime tendant au huis clos également lorsque cette dernière ne comparaît pas à l'audience?
Aiuto alle vittime di reati.
Art. 5 cpv. 3 LAV. Porte chiuse.
- Il diritto cantonale può prevedere un disciplinamento speciale per la stampa?
- Il tribunale deve dar seguito alla richiesta della vittima in merito alle porte chiuse anche se la vittima non partecipa all'udienza?
Dem Bundesamt für Justiz (BJ) wurde die Frage unterbreitet, ob folgende kantonale Vorschrift mit dem Bundesrecht vereinbar wäre:
«Das Gericht kann die zugelassenen Gerichtsberichterstatter auch zu Verhandlungen zulassen, von denen die Öffentlichkeit ausgeschlossen wird, wenn daran ein öffentliches Interesse besteht ...».
Weiter wurde gefragt, ob das Gericht dem Antrag des Opfers auf Ausschluss der Öffentlichkeit auch dann folgen muss, wenn das Opfer an der Gerichtsverhandlung nicht teilnimmt.
Im folgenden wird die Stellungnahme des BJ auszugsweise wiedergegeben.
1. Wortlaut von Art. 5 Abs. 3 OHG
Art. 5 des BG vom 4. Oktober 1991 über die Hilfe an Opfer von Straftaten (Opferhilfegesetz [OHG], SR 312.5, AS 1992 2465) befasst sich mit dem Persönlichkeitsschutz des Opfers im Strafverfahren. Art. 5 Abs. 3 lautet:
«Das Gericht schliesst die Öffentlichkeit von den Verhandlungen aus, wenn überwiegende Interessen des Opfers es erfordern. Bei Straftaten gegen die sexuelle Integrität wird die Öffentlichkeit auf Antrag des Opfers ausgeschlossen.»
2. Zur Entstehungsgeschichte von Art. 5 Abs. 3 OHG
Der Gedanke des ersten Satzes von Art. 5 Abs. 3 OHG findet sich bereits im Vorentwurf zum Bundesgesetz über die Hilfe an Opfer von Straftaten gegen Leib und Leben vom 12. August 1986 (Art. 8 Abs. 2). In der Vernehmlassung blieb der Grundsatz unbestritten. Der Bundesrat übernahm den Vorschlag mit leichten redaktionellen Änderungen. In den Räten gab die Bestimmung zu keinen Diskussionen Anlass und wurde in der Fassung des Bundesrats ins nun geltende Gesetz übernommen.
Der zweite Satz wurde auf Antrag der vorberatenden Kommission vom Nationalrat in die Vorlage des Bundesrates eingefügt. In der vorberatenden Kommission wurde darauf hingewiesen, dass Sexualdelikte eine besondere Behandlung verdienen sollten. Die Gefahr einer sekundären Viktimisierung des Opfers sei bei öffentlichen Verhandlungen sehr gross. Das Opfer, das möglicherweise in der Zeitspanne zwischen der Tat und dem Prozess die Tat bereits etwas verarbeitet habe, müsse entscheiden können, ob es wünsche, dass die Tat und sein Name öffentlich bekannt werden sollten. Der Wille des Opfers bekomme aber nur dann Bedeutung, wenn das Gericht die Öffentlichkeit zulassen will, und das Opfer damit nicht einverstanden ist. Mit der Formulierung werde die gesetzliche Vermutung aufgestellt, dass bei einem Antrag des Opfers auf Ausschluss der Öffentlichkeit die Interessen des Opfers überwiegen.
Der Vorschlag der vorberatenden Kommission wurde im Nationalrat nicht mehr diskutiert. Auch der Ständerat hiess Art. 5 Abs. 3 ohne Diskussion gut.
3. Zur Auslegung von Art. 5 Abs. 3 OHG
a. Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen, statuiert unter anderem in Art. 6 Ziff. 1 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK, SR 0.101) bedeutet eine Absage an jede Form geheimer Kabinettsjustiz. Ausnahmen vom Grundsatz sind aber möglich, wenn der Schutz des Privatlebens der Prozessparteien es verlangt.
Eine solche Ausnahme sieht Art. 5 Abs. 3 OHG vor. Nach dem ersten Satz dieser Bestimmung muss das Gericht neu auch die Interessen des Opfers in die Interessenabwägung miteinbeziehen. Liegen überwiegende Interessen des Opfers am Ausschluss der Öffentlichkeit vor und erfordern sie diesen, muss das Gericht die Öffentlichkeit ausschliessen. Nach dem zweiten Satz der Vorschrift muss es auch dann die Öffentlichkeit ausschliessen, wenn das Verfahren eine Straftat gegen die sexuelle Integrität betrifft und wenn ein Antrag des Opfers auf Ausschluss der Öffentlichkeit vorliegt. Der Wortlaut des Gesetzes räumt dem Gericht keinerlei Ermessensspielraum bezüglich Rechtsfolge ein.
b. Der Ausschluss der Öffentlichkeit kann aber nach Ansicht des BJ auf bestimmte Prozesshandlungen, also in zeitlicher Hinsicht begrenzt werden, auch wenn dies vom OHG nicht ausdrücklich erwähnt wird. Andere Prozessordnungen (z.B. Art. 17 Abs. 3 OG) nennen diese Möglichkeit ausdrücklich. Voraussetzung hierfür ist, dass einer der beiden Sachverhalte, deren Rechtsfolge Art. 5 Abs. 3 OHG regelt, nur bezüglich bestimmter Prozesshandlungen erfüllt ist.
c. Kann das Gericht auch in personeller Hinsicht differenzieren und nur das allgemeine Publikum ausschliessen, die Presse aber zulassen? - Zur Öffentlichkeit im üblichen Sprachgebrauch gehört auch die Presse (vgl. z.B. Hauser Robert, Kurzlehrbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 2. Aufl., Basel und Frankfurt am Main, 1984). Die Journalisten haben grundsätzlich die gleichen Rechte wie das übrige Publikum. Die Prozessordnungen räumen ihnen jedoch zum Teil weitergehende Informationsrechte ein, die aber in der Regel nur zum Zuge kommen, wenn die Verhandlung öffentlich ist.
Die Gleichbehandlung der Presse mit der übrigen Öffentlichkeit ist in letzter Zeit relativiert worden. So lässt zum Beispiel Art. 62 Abs. 3 des Gerichtsgesetzes des Kantons St. Gallen vom 2. April 1987 akkreditierte Gerichtsberichterstatter auch bei nichtöffentlichen Verhandlungen zu, wenn öffentliche und schutzwürdige private Interessen nicht beeinträchtigt werden. In einem Urteil aus dem Jahre 1991 (BGE 117 Ia 387 ff.) hat das Bundesgericht entschieden, eine sinngemässe Auslegung von Art. 6 Ziff. 1 Satz 2 EMRK ergebe, dass es im Einzelfall zulässig sein könne, nur das allgemeine Publikum, nicht aber die Presse von der Gerichtsverhandlung auszuschliessen. Es führte aus, beim Abweichen vom Prinzip der Öffentlichkeit der Verhandlung gehe es «um die Abwägung der im Spiel liegenden Interessen. Es gibt Fälle, in denen es mit Rücksicht auf das Privatleben der Prozesspartei als geboten erscheint, das Publikum von der Verhandlung auszuschliessen, während es sich im Blick auf das berechtigte öffentliche Interesse an der Information der Allgemeinheit rechtfertigt, die Pressevertreter zuzulassen.» Eine richtige Abwägung der Interessen führe in solchen Fällen zur genannten Mittellösung, bei welcher das bedeutende Privatinteresse und das erhebliche öffentliche Interesse angemessen berücksichtigt seien. - Vom Bundesgericht nicht berücksichtigt wurde, dass verschiedene Prozessordnungen noch andere Mittel zur Information der Presse vorsehen: So ist zum Beispiel nach dem bernischen Gesetz über das Strafverfahren (StrV) die Voruntersuchung geheim; der Untersuchungsrichter hat aber in bestimmten Fällen die Befugnis, selber die Öffentlichkeit zu informieren (Art. 93 StrV).
d. Die Entstehungsgeschichte von Art. 5 Abs. 3 OHG liefert keinerlei Hinweise dafür, dass der Gesetzgeber vom allgemeinen Sprachgebrauch abweichen wollte und zwischen gewöhnlichem Publikum und Presseberichterstattern unterscheiden wollte. Das Gericht hat im Falle von Satz 1 eine Interessenabwägung vorzunehmen, bei der die Interessen des Opfers am Ausschluss der Öffentlichkeit, die Interessen des Angeschuldigten (an der Beibehaltung der Öffentlichkeit oder am Ausschluss der Öffentlichkeit) sowie das öffentliche Interesse an einer Kontrolle der Justiz zu beurteilen sind. Eine Sonderregelung für die Presse wurde nie diskutiert. Ihre Rolle ist bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen. Der zweite Satz wurde, wie aus den Beratungen der vorberatenden Kommission des Nationalrates hervorgeht, im Bewusstsein der weitreichenden Wirkungen der Presseberichterstattung in die Vorlage eingefügt. Man wollte dem Opfer die Möglichkeit geben, gerade hier einen Riegel zu schieben.
Aus diesen Gründen kommen wir zur Auffassung, dass das Gericht dann, wenn die Interessen des Opfers die Interessen der Öffentlichkeit überwiegen und wenn ein Antrag des Opfers auf Ausschluss der Öffentlichkeit vorliegt, keinerlei Spielraum mehr hat. In diesen Fällen ist ein Ausschluss der Öffentlichkeit mit Ausnahme der Pressevertreter unzulässig.
e. Für die Mittellösung bleibt aber bei anderen Fallkonstellationen Raum: Sie kann vom Gericht dann angeordnet werden, wenn von beiden Seiten gewichtige Interessen dargetan werden und die Interessen des Opfers nicht überwiegen. Allerdings kann sich das Opfer dagegen wehren, indem es einen Antrag nach Art. 5 Abs. 3 zweiter Satz OHG stellt.
f. Die vorgesehene Regelung erfasst beide Fälle nach Art. 5 Abs. 3 OHG. Der Wortlaut weckt den Eindruck, dass zunächst über den Ausschluss der Öffentlichkeit (nach Art. 5 Abs. 3 OHG) zu befinden und in einem zweiten Schritt das öffentliche Interesse zu beurteilen und allenfalls die Presse doch noch zuzulassen ist. Das Bundesrecht sieht aber eine Interessenabwägung vor beziehungsweise nimmt diese selbst vor, wenn das Opfer einen Antrag auf Ausschluss der Öffentlichkeit stellt. Sind die Voraussetzungen nach Art. 5 Abs. 3 Satz 1 oder Satz 2 OHG erfüllt, muss sowohl das allgemeine Publikum als auch die Presse ausgeschlossen werden. Das kantonale Recht darf hier nicht relativierend eingreifen. Das BJ hält die vorgesehene Bestimmung deshalb für bundesrechtswidrig. Hingegen wäre es nach Ansicht des BJ möglich, dass der kantonale Gesetzgeber für den Fall von gleichwertigen Interessen von Opfer und Presse eine Zulassung der Presse unter Ausschluss des allgemeinen Publikums vorsieht.
g. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass die Mittellösung aus praktischen Gründen wohl nur dann in Frage kommt, wenn der Kanton ein förmliches Akkreditierungssystem kennt. Andernfalls würde sich in jedem Prozess mit Teilausschluss der Öffentlichkeit die Frage stellen, ob eine anwesende Person als Gerichtsberichterstatter anerkannt werden kann oder nicht. Die Akkreditierung bietet auch Gewähr dafür, dass nur solche Journalisten zugelassen werden, die den Informations- und Kontrollauftrag der Presse ernst nehmen. Der Entzug der Akkreditierung bildet zudem eine wirksame Sanktion.
5. Muss das Gericht dem Antrag des Opfers auf Ausschluss der Öffentlichkeit auch dann folgen, wenn das Opfer an der Gerichtsverhandlung nicht teilnimmt?
Aus der vorn dargestellten Entstehungsgeschichte ergibt sich, dass ein Antrag des Opfers auf Ausschluss der Öffentlichkeit das Gericht bindet. Das Gericht hat bei einem solchen Antrag keinerlei Entscheidungsspielraum mehr und kann den Ausschluss der Öffentlichkeit nicht von der Teilnahme des Opfers an den Verhandlungen abhängig machen. Die Frage ist also mit «ja» zu beantworten.
Da der Sinn der Bestimmung darin liegt, dem Opfer den Entscheid über die Teilnahme der Öffentlichkeit inklusive Presse in die Hand zu geben, besteht jedoch nach Ansicht des BJ auf Seite des Opfers ein gewisser Spielraum. Das BJ erachtet es als zulässig, dass das Opfer nur den Ausschluss der Öffentlichkeit von bestimmten Prozesshandlungen oder nur den Ausschluss des allgemeinen Publikums, nicht aber der Presse, verlangt. Das kantonale Recht könnte im Sinne einer Zusammenarbeit zwischen Opfer und Gericht das Gericht verpflichten, das Opfer über diese verschiedenen Möglichkeiten zu informieren.
Dokumente des BJ