VPB 67.37
(Gutachten des Bundesamtes für Justiz vom 12. Februar 2003)
Tragweite von Art. 112a BV gemäss Entwurf über eine Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen (NFA) und Tragweite von Art. 116 Abs. 1, 2 und 4 BV in Bezug auf Ergänzungsleistungen für Familien (vgl. auch VPB 66.23).
- Art. 112a BV enthält keine Kompetenz für den Bund, die ihm erlauben würde, die Kantone zur Einführung von Ergänzungsleistungen für Familien zu verpflichten.
- Eine solche Kompetenz ergibt sich aber aus Art. 116 Abs. 2 und 4 BV.
- Anwendung des Subsidiaritätsprinzips und des Prinzips des Vollzugsföderalismus bei Rechtsetzungskompetenzen des Bundes.
Portée de l'art. 112a Cst. d'après le projet de réforme de la péréquation financière et de la répartition des tâches entre la Confédération et les cantons (RPT), et portée de l'art. 116 al. 1, 2 et 4 Cst., en matière de prestations complémentaires pour les familles (voir aussi JAAC 66.23).
- L'art. 112a Cst. n'attribue à la Confédération aucune compétence lui permettant d'obliger les cantons à créer des prestations complémentaires pour les familles.
- Une telle compétence découle en revanche de l'art. 116 al. 2 et 4 Cst.
- Application du principe de la subsidiarité et du principe du fédéralisme d'exécution dans le cadre des compétences législatives de la Confédération.
Portata dell'art. 112a Cost. secondo il progetto di nuova perequazione finanziaria e di nuova ripartizione dei compiti fra Confederazione e cantoni (NPC) e portata dell'art. 116 cpv. 1, 2 e 4 Cost. in relazione a prestazioni complementari per le famiglie (cfr. anche GAAC 66.23).
- L'art. 112a Cost. non prevede la competenza della Confederazione di obbligare i cantoni ad introdurre prestazioni complementari per le famiglie.
- Una simile competenza risulta però dall'art. 116 cpv. 2 e 4 Cost.
- Applicazione del principio di sussidiarietà e del principio del federalismo esecutivo nei casi di competenze legislative della Confederazione.
Das Bundesamt für Justiz (BJ) hatte in einem Gutachten vom 11. Dezember 2001 zuhanden des Bundesamtes für Sozialversicherung (BSV) im Zusammenhang mit der Umsetzung der parlamentarischen Initiativen Fehr Jacqueline (00.436) und Meier-Schatz (00.437) zu den Fragen Stellung genommen, ob und in welchem Umfang dem Bund gestützt auf Art. 116 Abs. 2 und 4 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV, SR 101) oder gestützt auf eine andere Verfassungsbestimmung eine Gesetzgebungskompetenz bezüglich Ergänzungsleistungen für Familien im Sinne des Tessiner Modells zukomme (VPB 66.23).
In Ergänzung zum Gutachten wurden dem BJ am 9. Januar 2003 vom Bundesamt für Sozialversicherungen die folgenden Fragen zur Beantwortung vorgelegt:
1. Erteilt der neue Art. 112a BV, der die Ergänzungsleistungen in der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (AHV/IV) zum Inhalt hat und der im Rahmen der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen (NFA; BBl 2002 2434 ff.) in die Bundesverfassung aufgenommen werden soll, dem Bund auch die Kompetenz, die Kantone zur Ausrichtung von Ergänzungsleistungen für Familien im Sinne des Tessiner Modells zu verpflichten?
2. Trifft es zu, dass der Bund aufgrund seiner Unterstützungskompetenz, die ihm nach Art. 116 Abs. 1 Satz 2 BV zukommt, im Bereich der Ergänzungsleistungen für Familien lediglich in jenem Rahmen tätig werden darf, wie es Art. 1 des Bundesgesetzes vom 19. März 1965 über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (ELG, SR 831.30) in der geltenden Fassung für die Ergänzungsleistungen im AHV-Bereich vorsieht; und ist somit eine Verfassungsänderung unumgänglich, falls der Bund die Kantone verpflichten will, Ergänzungsleistungen für Familien nach dem Tessiner Modell einzuführen? I. Art. 112a BV
1. Nach dem bisherigen Stand des Projekts ist vorgesehen, die neu zu schaffenden Ergänzungsleistungen für Familien im ELG zu regeln und somit den Geltungsbereich dieses Gesetzes entsprechend zu erweitern. In diesem Kontext möchte das BSV nun wissen, ob der neue Art. 112a BV dem Bund auch die Kompetenz erteilt, die Kantone zur Ausrichtung von Ergänzungsleistungen für Familien im Sinne der parlamentarischen Initiativen Fehr und Meier-Schatz zu verpflichten.
2. Der neue Art. 112a BV soll Art. 196 Ziff. 10 BV ersetzen. Nach der noch geltenden Lösung ist es den Kantonen grundsätzlich freigestellt, ob und in welchem Rahmen sie Ergänzungsleistungen zur AHV/IV ausrichten. Nach Art. 1 ELG richtet der Bund allerdings nur in jenen Kantonen Subventionen aus, in welchen die kantonalen Ergänzungsleistungen nach den Vorschriften des ELG ausgestaltet sind.
3. Mit der neuen Verfassungsbestimmung soll die bisher als Übergangsbestimmung ausgestaltete Regelung ins ordentliche Verfassungsrecht überführt werden. Bund und Kantone sollen neu verpflichtet werden, zur Deckung des Existenzbedarfs bei der Alters,- Hinterlassenen- und Invalidenversicherung Ergänzungsleistungen auszurichten. Ausserdem wird dem Bund die Kompetenz erteilt, den Umfang, die Aufgabenteilung und die Zuständigkeiten von Bund und Kantonen in einem Gesetz zu regeln.
4. Art. 112a hat die Ergänzungsleistungen in der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung zum Inhalt. Die neue Verpflichtung an Bund und Kantone zur Ausrichtung von Ergänzungsleistungen bezieht sich ausschliesslich auf Ergänzungsleistungen im AHV/IV-Bereich. Im Zusammenhang mit der 10. AHV-Revision war der Geltungsbereich des ELG mit den damals eingefügten Art. 2a, 2b und 2c erweitert worden. Seither können Ergänzungsleistungen auch Personen ausgerichtet werden, die noch nicht AHV- oder IV-berechtigt sind. Eine Erweiterung des Geltungsbereichs in diesem Rahmen bewegt sich innerhalb des von der Verfassungsbestimmung abgedeckten Bereichs der AHV/IV. Eine generelle Ausdehnung der bezugsberechtigten Personen im Sinne von Ergänzungsleistungen für Familien würde hingegen die Grenzen von Art. 112a sprengen. Diese Bestimmung enthält keine Kompetenz für den Bund, die ihm erlauben würde, die Kantone zu Ergänzungsleistungen für Familien zu verpflichten.
5. Für die Umsetzung der parlamentarischen Initiativen Fehr und Meier-Schatz bedeutet dies Folgendes: Es ist rechtlich möglich, aber nicht zwingend, den Geltungsbereich des ELG zu erweitern und zusätzlich die geplanten Ergänzungsleistungen für Familien ebenfalls darin zu regeln. Es kann nach Ansicht des BJ durchaus Sinn machen, die bereits bestehenden und bewährten Vollzugsinstrumente der Ergänzungsleistungen im AHV/IV-Bereich zu nutzen und auf diese Weise im Bereich der Ergänzungsleistungen für Familien eine möglichst gleichartige Regelung zu schaffen. An der bestehenden verfassungsmässigen Kompetenzaufteilung vermag dies jedoch nichts zu ändern. Damit der Bund im Bereich der Ergänzungsleistungen für Familien tätig werden kann, muss er über eine entsprechende Verfassungsgrundlage verfügen. Im Rechtsgutachten vom 11. Dezember 2001, welches die Frage der Bundeskompetenzen zur Umsetzung der beiden parlamentarischen Initiativen Fehr und Meier-Schatz zum Thema hatte, hat das BJ seine Überlegungen zu dieser Frage dargelegt und ausgeführt, dass der Bund eine solche Kompetenz aus Art. 116 Abs. 1, 2 und 4 BV herleiten kann. Bei einer Ergänzung des ELG müsste darum der Ingress mit dieser Bestimmung ergänzt werden. Es wäre aber gestützt auf diese Verfassungsgrundlage auch möglich, ein Gesetz über Ergänzungsleistungen für Familien zu schaffen.
II. Art. 116 BV
1. Eine weitere Frage, die das BSV dem BJ unterbreitet, betrifft die Tragweite der Kompetenz, die der Bund gestützt auf Art. 116 Abs. 1 BV innehat. Das BSV möchte wissen, ob es zutrifft, dass der Bund aufgrund seiner Unterstützungskompetenz, die ihm nach Art. 116 Abs. 1 Satz 2 BV zukommt, im Bereich der Ergänzungsleistungen für Familien lediglich in jenem Rahmen tätig werden darf, wie es Art. 1 ELG in der geltenden Fassung für die Ergänzungsleistungen im AHV/IV-Bereich vorsieht. Wie bereits weiter oben ausgeführt wurde, stellt nach Art. 1 Abs. 1 ELG der Bund den Kantonen frei, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV einzuführen, macht seine Unterstützungsleistungen aber von den im Gesetz festgelegten Regeln zur Ausgestaltung der Ergänzungsleistungen abhängig.
2. Im Gutachten vom 11. Dezember 2001 hat sich das BJ unter römisch III Ziff. 1.2. zur Tragweite der Bundeskompetenz bei der Einführung von Ergänzungsleistungen für Familien geäussert. Es ist dort zum Schluss gekommen, dass der Bund insoweit auf die Kantone Einfluss nehmen kann, als er denjenigen Kantonen Unterstützung gewährt, die Ergänzungsleistungen einführen wollen oder bereits eingeführt haben, dass er aber die Kantone gestützt auf diese Verfassungsbestimmung nicht zur Einführung solcher Leistungen verpflichten kann. Es stimmt daher mit dem BSV überein, dass Art. 1 Abs. 1 des geltenden ELG sich vom Umfang her an den Rahmen der Verfassungskompetenz hält, die dem Bund auch gestützt auf Art. 116 Abs. 1 Satz 2 BV bei der Einführung von Ergänzungsleistungen für Familien zukommen würde.
3. Im erwähnten Gutachten ist das BJ auch zum Schluss gekommen, dass dem Bund gestützt auf Art. 116 Abs. 2 und 4 BV eine Kompetenz zur Einführung von Ergänzungsleistungen für Familien zukommt. Es verweist dazu insbesondere auf seine Ausführungen unter römisch III Ziff. 2.2. und römisch IV Ziff. 3 . Es hat dort erläutert, dass der Begriff der Familienzulagen nirgendwo abschliessend definiert und es daher denkbar ist, ihn unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der Familie im Sinn von Art. 116 Abs. 1 Satz 1 weiter als bisher üblich zu interpretieren. Nach Ansicht des BJ ist die bislang in den meisten - vor allem kantonalen - Familienzulagengesetzen verwendete Lösung (mit fixen Beträgen pro Kind oder pro Haushaltung) nicht zwingend; es können auch Bedarfsleistungen für Familien als Familienzulagen im Sinne von Art. 116 Abs. 2 und 4 verstanden werden (Luzius Mader, St. Galler Kommentar zu Art. 116 BV, Rz. 9, Schulthess 2002).
4. Das BJ hat im Gutachten vom 11. Dezember 2001 dargelegt, dass dem Bund im Bereich der Familienzulagen eine umfassende Gesetzgebungskompetenz zukommt, die ihn insbesondere zum Erlass von Vorschriften über Familienzulagen und zur Führung einer eidgenössischen Familienausgleichskasse berechtigt, ihm die Möglichkeit erteilt, den Beitritt zu einer Familienausgleichskasse allgemein oder für einzelne Bevölkerungsgruppen obligatorisch zu erklären und seine Leistungen von angemessenen Leistungen der Kantone abhängig zu machen. Im Rahmen dieser umfassenden Kompetenz steht es dem Bund also frei, die Kantone zu verpflichten, Ergänzungsleistungen für Familien einzuführen. Einer Regelung dieses Inhalts im ELG steht nach Ansicht des BJ nichts entgegen. Der Ingress des ELG müsste dazu um Art. 116 Abs. 2 BV ergänzt und die entsprechenden, von der bereits bestehenden Regelung abweichenden Bestimmungen in den Gesetzestext eingefügt werden. Eine zusätzliche Verfassungsänderung ist somit nicht notwendig.
5. Im Zeitpunkt der Erstellung des Gutachtens vom 11. Dezember 2001 war noch offen, in welchem Rahmen und in welcher Form die parlamentarischen Initiativen Fehr und Meier-Schatz umgesetzt werden würden. Daher hat das BJ damals lediglich festgehalten, dass es dem Bund freistehe, in welchem Umfang er seine Regelungskompetenzen wahrnehme, dass er allerdings das Subsidiaritätsprinzip und das Prinzip des Vollzugsföderalismus zu beachten habe. Nachdem nun feststeht, dass die Ergänzungsleistungen für Familien im ELG geregelt werden sollen, stellt sich die Frage, wie der Bund dabei den genannten Prinzipien Nachachtung verschaffen kann.
6. Das BJ hat sich bereits ausführlich zum Subsidiaritätsprinzip und zum Prinzip des Vollzugsföderalismus geäussert (vgl. Gutachten vom 11. Dezember 2001, römisch II). Der Bund soll demnach jeweils im Rahmen seiner Kompetenzen nur jene Bereiche an sich ziehen, die einer einheitlichen Regelung bedürfen (Subsidiaritätsprinzip) und dabei die Einzelheiten für den Vollzug nur soweit selber regeln, als dies für die gute Aufgabenerfüllung notwendig ist (Prinzip des Vollzugsföderalismus). Es ist vorgesehen, das Subsidiaritätsprinzip im Rahmen der NFA ausdrücklich in der Verfassung zu verankern, nachdem dies im Rahmen der Nachführung der Bundesverfassung bereits vorgeschlagen, in der parlamentarischen Beratung jedoch abgelehnt worden war (BBl 2002 2457 ff.).
7. Für die Regelung der Ergänzungsleistungen für Familien stellt sich somit die Frage, ob es sich dabei um eine Aufgabe handelt, die einer einheitlichen Regelung im Sinne von Art. 42 Abs. 2 BV bedarf. Die parlamentarischen Initiativen Fehr und Meier-Schatz haben beide zum Ziel, der zunehmenden Armut in kinderreichen Familien und in Familien mit kleinen Kindern entgegenzuwirken. Die zahlreichen, von den ausgerichteten Leistungen her zum Teil sehr unterschiedlichen kantonalen Familienzulagenregelungen, die zumeist nicht bedarfsorientiert konzipiert sind, tragen schweizweit nur ungenügend zur Entschärfung des Problems bei. Eine Bundeslösung, die geeignet ist, die Familienlasten wenigstens in einem gewissen Rahmen auf die gesamte Bevölkerung zu verteilen, erscheint daher als angezeigt. Das BJ verweist hiezu auf seine diesbezüglichen Ausführungen im Gutachten unter römisch III Ziff. 1.2. Insbesondere erscheint es dann gerechtfertigt, eine einheitliche Bundeslösung anzustreben, wenn die unterschiedlichen kantonalen Lösungen, die zu einer bundesweit gesehen ungerechten Situation führen, zumindest teilweise auf die ungleiche jeweilige Finanzkraft der Kantone zurückzuführen sind. In diesem Sinne finden sich auch Äusserungen zum Subsidiaritätsprinzip in der Botschaft zum NFA (BBl 2002 2457 ff.). Dort wird in Art. 43a Abs. 1 BV neu die Präzisierung vorgeschlagen, dass der Bund Aufgaben wahrnehmen soll, die die Kraft der Kantone übersteigen.
8. Berücksichtigt man den demographischen Aspekt von Ergänzungsleistungen für Familien als Instrument der Familienförderung, liegt es nahe, die staatliche Leistung von demjenigen Gemeinwesen erbringen zu lassen, welches den grössten Nutzen aus der Leistung zieht (vgl. hiezu die Ausführungen zu Art. 43a Abs. 2 und 3 NFA, BBl 2002 2459). Die Förderung einer zukünftigen leistungsfähigen Generation bringt Nutzen für die ganze Gesellschaft. Vom Bund geregelte Ergänzungsleistungen für Familien sind daher auch von diesem Standpunkt aus gerechtfertigt und mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar.
9. Wie die Einzelheiten des Vollzugs geregelt werden sollen, ergibt sich nach Ansicht des BJ bereits aus der Entscheidung, die Ergänzungsleistungen für Familien ins ELG einzufügen. Diese Entscheidung begründet sich damit, dass man dieselben Vollzugsinstrumente nutzen möchte, die sich für die Ergänzungsleistungen im AHV/IV-Bereich bewährt haben. Indem die bestehenden kantonalen Vollzugsinstrumente für die Ergänzungsleistungen für Familien ebenfalls Anwendung finden, ist dem Prinzip des Vollzugsföderalismus Nachachtung verschafft.
Dokumente des BJ