VPB 68.124
(Entscheid des Bundesrates vom 23. Juni 2004)
Rechtshilfe durch Auslieferung. Verhältnis der Rechtsquellen. Auslieferungshindernis im Landesrecht.
- In Auslieferungsfragen zwischen der Schweiz und Deutschland gilt in erster Linie das EAUe, in zweiter Linie der ergänzende Staatsvertrag mit Deutschland und - nur soweit diesen Bestimmungen keine Antwort zu entnehmen ist - das IRSG (E. IV.1).
- Der Vorbehalt von Art. 1a IRSG - der verlangt, bei der Anwendung des Gesetzes wesentlichen Interessen der Schweiz Rechnung zu tragen - ist bei der Auslieferung nach dem EAUe nicht anwendbar, da er dem Übereinkommen zuwiderläuft (E. IV.2).
- Vorliegend berührte die Auslieferung ohnehin keine wesentlichen Interessen des Landes (E. IV.3).
Entraide judiciaire par voie d'extradition. Rapport entre les sources du droit. Obstacle à l'extradition dans le droit national.
- Les questions d'extradition entre la Suisse et l'Allemagne sont régies en premier lieu par la CEExtr, en second lieu par l'accord complémentaire conclu avec l'Allemagne et enfin, si ces deux sources n'apportent pas de réponse à la question, par l'EIMP (consid. IV.1).
- La réserve de l'art. 1a EIMP, selon lequel les intérêts essentiels de la Suisse doivent être pris en compte dans l'application de la loi, n'est pas applicable en matière d'extradition selon la CEExtr, car elle va à l'encontre de cette convention (consid. IV.2).
- Dans le cas présent, l'extradition n'affectait de toute façon pas les intérêts essentiels du pays (consid. IV.3).
Assistenza giudiziaria per via d'estradizione. Rapporto tra le fonti di diritto. Ostacolo all'estradizione nel diritto nazionale.
- In questioni relative all'estradizione tra la Svizzera e la Germania è applicabile in primo luogo la CEEstr, secondariamente l'accordo completivo e - solo nel caso in cui queste disposizioni non diano risposte esaurienti - l'AIMP (consid. IV.1).
- La riserva dell'art. 1a AIMP - secondo il quale la presente legge si applica tenendo conto degli interessi essenziali della Svizzera - non è applicabile in caso di estradizione secondo la CEEstr, perché contraria a questa convenzione (consid. IV.2).
- Nella fattispecie l'estradizione non riguardava comunque un interesse essenziale del Paese (consid. IV.3).
Zusammenfassung des Sachverhalts:
A. Gestützt auf einen Haftbefehl des Landgerichts Düsseldorf wurde X. im Januar 2003 bei der Einreise in die Schweiz verhaftet, als er sich an den internationalen Anlass Y. begeben wollte. Er wurde vom Bundesamt für Justiz (BJ) umgehend in provisorische Auslieferungshaft versetzt. Gegen den in der Folge erlassenen Auslieferungshaftbefehl des BJ erhob X. Beschwerde, welche von der Anklagekammer des Bundesgerichts abgewiesen wurde. Am 19. März 2003 hiess das Bundesamt für Justiz ein Gesuch des Justizministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen um Auslieferung von X. gut. Hiegegen erhob dieser Verwaltungsgerichtsbeschwerde, welche vom Bundesgericht mit Entscheid vom 5. Juni 2003 (1A.90/2003) abgewiesen wurde.
B. Mit Eingabe an das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) vom 12. Juni 2003 beantragte X., es sei gestützt auf Art. 1a und Art. 17 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 20. März 1981 über internationale Rechtshilfe in Strafsachen (Rechtshilfegesetz [IRSG], SR 351.1) von einer Auslieferung abzusehen, die Auslieferungshaft aufzuheben und der Vollzug der Auslieferung bis zum Entscheid über die Frage des Vorliegens eines Auslieferungshindernisses (nach Art. 1a IRSG) aufzuschieben. Am 13. Juni 2003 wurde X. den deutschen Behörden ausgeliefert.
C. Mit Entscheid vom 2. Dezember 2003 trat das EJPD auf das Gesuch vom 12. Juni 2003 um Verzicht auf eine Auslieferung nicht ein und überband X. die Verfahrenskosten.
D. Mit Beschwerde an den Bundesrat vom 2. Januar 2004 stellt X. die Anträge, es sei in Gutheissung der Beschwerde auf sein Ersuchen vom 12. Juni 2003 einzutreten, seine Auslieferung nach Deutschland zu verweigern und von Deutschland die Rücklieferung zu verlangen. Das EJPD schliesst auf Abweisung der Beschwerde.
Aus den Erwägungen:
II.
1.-4. (Formelles)
III.
1. Materiell dreht sich die vorliegende Streitigkeit um die Frage, ob das EJPD eine Auslieferung an Deutschland in Anwendung von Art. 1a IRSG hätte verweigern müssen. Dieser lautet wie folgt: «Bei der Anwendung dieses Gesetzes ist den Hoheitsrechten, der Sicherheit, der öffentlichen Ordnung oder anderen wesentlichen Interessen der Schweiz Rechnung zu tragen.»
2. Der Beschwerdeführer macht zusammengefasst geltend, er hätte bei richtiger Anwendung von Art. 1a IRSG nicht ausgeliefert werden dürfen. Nationale Interessen seien im Rechtshilferecht inhaltlich allgemein im umfassenden Sinne zu verstehen. Die im Europäischen Auslieferungsabkommen vom 13. Dezember 1957 (EAUe, SR 0.353.1) aufgeführten einzelnen Auslieferungshindernisse seien mehrheitlich auf das Individuum bezogen; nur eine Minderheit betreffe Interessen des Staates. Diese seien daher wohl nicht vollständig erfasst. Es sei auch schwer einzusehen, warum bei der «kleinen Rechtshilfe» (Europäisches Übereinkommen vom 20. April 1959 über Rechtshilfe in Strafsachen, SR 0.351.1) dem ersuchten Staat mehr Einwände zu Gebote stünden als bei der viel bedeutsameren Auslieferung. Der in Art. 1a IRSG festgehaltene Grundsatz der Kooperationsverweigerung sei bei wesentlichen nationalen Interessen nicht nur allgemein anerkannt, sondern im Anwendungsbereich des EAUe bis heute unverzichtbar. Nationale Interessen könnten etwa angerufen werden, wenn der die Auslieferung ersuchende Staat die Verfahrensgarantien der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK, SR 0.101) nicht gewährleiste. Auch könne die Auslieferung eines aus sozialen Gründen Asylsuchenden allein unter Berufung auf den - im EAUe nicht genannten - «ordre public» verweigert werden. Das vertragliche Völkerrecht vermöge im Weiteren die rasche Entwicklung politischer Situationen und Werte nicht immer rechtzeitig aufzufangen. Die Schweiz könne daher ausnahmsweise eine Auslieferung verweigern, selbst wenn dies eine Verletzung eines Staatsvertrags darstelle, soweit dies nicht aus rein nationalem Interesse, sondern einem internationalen Bedürfnis entsprechend geschehe. (Angaben zur Person von X. und zum internationalen Anlass Y.). Zahlreiche Teilnehmer würden ausbleiben, wenn sie in der Schweiz ihre rechtshilfeweise - allein auf die Schilderung der Tat- und Schuldfrage durch den ersuchenden Staat gestützte - Verhaftung befürchten müssten. Eine solche Verhaftung könne alle treffen, denn es sei nie auszuschliessen, dass (beispielsweise in der Terrorismusbekämpfung oder Handhabung innerer Sicherheit oder bei Auseinandersetzungen unter Unternehmen) aus fremder Sicht strafbar erscheine, was aus eigener Sicht legale Pflichterfüllung sei. Um den Weiterbestand des internationalen Anlasses Y. willens sei es zwingend erforderlich und im nationalen Interesse der Schweiz, seine Teilnehmer vor Zwangsmassnahmen zu schützen, solange sie sich nicht gerade in der Schweiz strafbar verhielten.
3. Das EJPD stellt sich im Wesentlichen auf den Standpunkt, Art. 1a IRSG stelle lediglich eine Ermächtigung dar, im Sinne des «ordre public» gegebenenfalls auf die strikte Anwendung der vertraglichen Verpflichtungen zu verzichten und verschaffe dem Betroffenen keinen Rechtsanspruch. Art. 1a IRSG könne nicht als allgemeiner Grundsatz des Auslieferungsrechts gelten und ungeachtet der massgeblichen völkerrechtlichen Übereinkommen angewendet werden. Ein solcher Vorbehalt sei in internationalen Auslieferungsabkommen - wie namentlich im vorliegend anwendbaren EAUe - nirgends enthalten, wohl aber in Verträgen über die «kleine Rechtshilfe». Es sei eine Verletzung des EAUe, wenn die politische Behörde eines Vertragsstaats nach einem richterlichen Auslieferungsentscheid die Auslieferung gestützt auf den «ordre public» nicht bewilligen würde. Der heutige Art. 1a IRSG sei denn auch nur in Anlehnung an Art. 2 Bst. b des Europäischen Übereinkommens über Rechtshilfe in Strafsachen ins Gesetz aufgenommen worden. Ein Vorrang des schweizerischen Rechts gegenüber den internationalen Auslieferungsabkommen könne somit nicht angenommen werden. Die Regelung der Auslieferung zwischen Deutschland und der Schweiz sei ferner dicht und detailliert und enthalte keinen Vorbehalt im Sinne von Art. 1a IRSG. Aus diesen Gründen sei der Schluss naheliegend, dass die Schweiz im EAUe absichtlich keinen Vorbehalt im Sinne von Art. 1a IRSG angebracht habe. Der Beschwerdeführer könne diese Bestimmung vorliegend deshalb nicht anrufen und auf das Gesuch sei nicht einzutreten.
IV.
1. Die Auslieferung strafrechtlich verfolgter oder verurteilter Personen ist Teil der internationalen Rechtshilfe. Regelungen dazu finden sich im nationalen Recht, namentlich im IRSG, in Staatsverträgen und in internationalen Abkommen. Im Verhältnis dieser Rechtsquellen gilt ein Staatsvertrag als lex specialis, sofern und soweit er die Auslieferung regelt. In zweiter Linie gelten die internationalen Vereinbarungen, sofern die betreffenden Staaten ihnen beigetreten sind. Soweit weder ein Staatsvertrag noch eine internationale Vereinbarung besteht oder diesen nichts zu entnehmen ist, gilt das nationale Recht (vgl. dazu Robert Hauser / Erhard Schweri, Schweizerisches Strafprozessrecht, 5. Aufl., Basel 2002, § 21 N. 4 mit Verweisungen). Die erwähnte Rangfolge unter den Rechtsquellen gilt selbst dann, wenn die gesetzliche Regelung später in Kraft getreten ist als der völkerrechtliche Vertrag. Sind die vertraglichen Voraussetzungen für eine Auslieferung erfüllt, so muss der ersuchte Staat die betreffende Person ausliefern, ausser der Vertrag erlaube Ausnahmen. Die in Auslieferungsverträgen enthaltenen Normen können somit von abweichenden Regelungen des IRSG nicht tangiert werden. In diesem Sinn kann das IRSG im vertraglichen Auslieferungsverkehr grundsätzlich nur dann angewendet werden, wenn der Vertrag keine abschliessende Regelung enthält und die gesetzliche Vorschrift dem Vertrag nicht zuwiderläuft (Stefan Heimgartner, Auslieferungsrecht, Zürich/Basel/Genf, 2002, S. 39). Auch der nationale «ordre public» kann der Anwendung eines Auslieferungsvertrags nur entgegenstehen, wenn der Vertrag selber einen entsprechenden Vorbehalt enthält (BGE 108 Ib 408 E. 7a). Verweigert werden kann eine Auslieferung gemäss Bundesgericht allenfalls dann, wenn Grundsätze des internationalen «ordre public» (Menschenrechte) verletzt würden; diese gehen allen vertrags- oder landesrechtlichen Überlegungen vor (BGE 112 Ib 215 E. 7).
In Auslieferungsfragen zwischen unserem Land und Deutschland ist damit in erster Linie das schon erwähnte EAUe zusammen mit seinen beiden Zusatzprotokollen vom 15. Oktober 1975 (SR 0.353.11) bzw. 17. März 1978 (SR 0.353.12) anwendbar, in zweiter Linie kommt der Vertrag vom 13. November 1969 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland über die Ergänzung des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. Dezember 1957 und die Erleichterung seiner Anwendung (SR 0.353.913.61) zum Tragen und - nur soweit diesen Bestimmungen keine Antwort zu entnehmen ist - schliesslich noch das IRSG.
2. Art. 1 EAUe verpflichtet die Vertragsparteien, «gemäss den nachstehenden Vorschriften und Bedingungen einander die Personen auszuliefern, die von den Justizbehörden des ersuchenden Staates wegen einer strafbaren Handlung verfolgt oder zur Vollstreckung einer Strafe oder einer sichernden Massnahme gesucht werden.» Das Übereinkommen enthält zahlreiche Regelungen, welche die Auslieferung ausschliessen oder einschränken, so etwa bei politischen, militärischen und fiskalischen strafbaren Handlungen, bei eigenen Staatsangehörigen, bei bereits hängigem Strafverfahren, bei bereits beurteilter Sache, bei Verjährung oder bei drohender Todesstrafe. Es findet sich indessen keine Bestimmung, die das Landesrecht vorbehalten oder die es der ersuchten Vertragspartei konkret erlauben würde, bei der Auslieferung (im Sinne von Art. 1a IRSG) dem nationalen «ordre public» oder wesentlichen Interessen des Landes Rechnung zu tragen. Eine solche Einschränkung findet sich sodann weder in den Zusatzprotokollen noch im erwähnten Staatsvertrag mit Deutschland und vor allem auch nicht in den förmlichen Vorbehalten zum Übereinkommen (gemäss Art. 26 EAUe), welche die Schweiz seinerzeit angemeldet hat. Nach der oben geschilderten Lehre und Praxis ist damit Art. 1a IRSG auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar, da er dem EAUe zuwiderläuft. Das Fehlen eines förmlichen Vorbehalts der Schweiz legt im Übrigen den Schluss nahe, dass sie sich bei einem Auslieferungsansuchen nach EAUe bewusst nicht auf eine solche Begrenzung der Zusammenarbeit berufen wollte. Dies umso weniger, als das die «kleine Rechtshilfe» regelnde Europäische Übereinkommen über Rechtshilfe in Strafsachen gleichzeitig wie das EAUe entstanden ist, im Gegensatz zu diesem aber in Art. 2 Bst. b ausdrücklich eine Art. 1a IRSG entsprechende Einschränkung enthält. Aus all diesen Gründen ergibt sich, dass Art. 1a IRSG auf die vorliegend zu beurteilende Auslieferung nicht anzuwenden und die Vorinstanz zu Recht auf das Gesuch nicht eingetreten ist.
3. Dem Gesuch des Beschwerdeführers wäre aber auch dann kein Erfolg beschieden, wenn Art. 1a IRSG anwendbar wäre. Dies, weil die hier zu beurteilende Auslieferung nicht den «wesentlichen Interessen» der Schweiz zuwider lief. (Angaben zur Bedeutung des internationalen Anlasses Y.) Mindestens ebenso wichtig für unser Land ist aber das Ansehen, das es als Rechtsstaat und integrer Finanzplatz geniesst. Als Rechtsstaat muss sich die Schweiz auch dann an internationale Vereinbarungen halten, wenn sich diese im Ergebnis nicht mit den Landesinteressen decken sollten. Zur Wahrung der Integrität des schweizerischen Finanzplatzes gehört, dass unsere Behörden konsequent gegen Geldwäscherei, Korruption, Terrorismus, Steuerwiderhandlungen, Anlage von Potentatengeldern und Wirtschaftskriminalität vorgehen. Die Schweiz steht in dieser Beziehung unter dauernder aufmerksamer Beobachtung durch das Ausland und muss höchsten Ansprüchen genügen. Selbst wenn sich somit eine Auslieferung des Beschwerdeführers auf den internationalen Anlass Y. hätte auswirken können, wäre dies bei der geschilderten Interessenlage wohl kein Grund gewesen, in Anwendung von Art. 1a IRSG auf eine Auslieferung zu verzichten.
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