12-01 Sondervorteil durch die Neuanlage einer Strasse bei einer bestehenden privat erstellten behelfsmässigen Erschliessung / Verursacherprinzip im Vorteilsbeitragsrecht

Letztlich muss das ganze Gebiet, worin eine Parzelle liegt, als genügend erschlossen gelten. Dies ist zu verneinen, wenn der Zustand der Strasse vor dem Ausbau lediglich als behelfsmässige Erschliessung für einige wenige überbaute Grundstücke genügt hat. Liegt nach den vorgenommenen Bauarbeiten erstmals eine vollständig ausgebaute, den technischen und rechtlichen Anforderungen genügende und dem ganzen Gebiet dienende Erschliessung vor, die unter anderem in Bezug auf die Sicherheit und Bequemlichkeit neue Sondervorteile mit sich bringt, ist das Bauprojekt als beitragsauslösende Neuanlage zu qualifizieren. (E. 5)


Der Sondervorteil ist Auslöser, causa, der Abgabeerhebung und stellt gleichzeitig das massgebende Bemessungskriterium dar. Wer die beitragsauslösende Erschliessungsleistung veranlasst oder verursacht hat, ist unmassgeblich, sofern allen Belasteten ein Sondervorteil zukommt. (E. 6)



Aus dem Sachverhalt:

Am 17. Januar 2011 beschloss der Gemeinderat der Einwohnergemeinde Känerkinden das Strassenbauprojekt "X.____weg". Anlässlich der Orientierungsversammlung vom 8. Februar 2011 wurden die Anstösser über das geplante Projekt und ihre grundsätzliche Beitragspflicht informiert. Die Einwohnergemeindeversammlung bewilligte am 21. März 2011 das entsprechende Baukreditbegehren in der Höhe von Fr. 160'000.00. In der Folge wurde der Ausbau des X.____wegs vorgenommen. Mit Verfügung vom 8. November 2011 wurde den Anstössern A.____ und B.____ für die Parzelle Nr. 507 des Grundbuchs Känerkinden ein Strassenbeitrag in der Höhe von Fr. 2'258.00 in Rechnung gestellt. Mit Schreiben vom 9. November 2011 inklusive beigelegter Begründung erhoben A.____ und B.____ gegen die Strassenbeitragsverfügung der Einwohnergemeinde Känerkinden Beschwerde beim Steuer- und Enteignungsgericht, Abteilung Enteignungsgericht (nachfolgend: Enteignungsgericht). Zur Begründung führen die Beschwerdeführenden im Wesentlichen aus, dass ihnen durch den Ausbaus des X.____wegs kein individueller und konkret zurechenbarer Sondervorteil entstünde.



Aus den Erwägungen:

5.


5.1 Die Beschwerdeführenden bringen in erster Linie vor, dass ihnen aus dem Strassenbauprojekt "X.____weg" keinerlei Sondervorteil entstünde. Vielmehr habe die Strasse bereits vor Durchführung des Strassenbauprojekts ihren Erschliessungsanforderungen vollauf genügt. Aus dem Ersatz bzw. der Verbesserung der Kofferung und der Verbreiterung der Strasse könne nicht ohne Weiteres auf die Entstehung eines Sondervorteils geschlossen werden. An der Erschliessung ihres Grundstücks habe sich durch die Strassenbauarbeiten nichts verändert. (…)


5.2 Gemäss § 90 Abs. 1 EntG können diejenigen Grundeigentümerinnen und Grundeigentümer, welchen durch ein öffentliches Erschliessungswerk besondere Vorteile erwachsen, zu einer angemessenen Beitragsleistung herangezogen werden. Aus der Definition der Beitragslast ergibt sich, dass eine Beitragspflicht nur dann eintritt, wenn eine Grundeigentümerin oder ein Grundeigentümer durch eine öffentliche Einrichtung einen wirtschaftlichen Sondervorteil erfährt. Diesen Vorteil und den daraus resultierenden Wertzuwachs in jedem einzelnen Fall zu schätzen, wie es an sich wünschbar wäre, erweist sich aus verschiedenen Gründen als unmöglich. Nach der Praxis ist es daher zulässig, auf schematische, nach der Durchschnittserfahrung aufgestellte und leicht zu handhabende Massstäbe abzustellen (BGE 110 Ia 205 E. 4c, 106 Ia 241 E. 3b; BGE 2C_655/2009 vom 25. Februar 2011 E. 5.2, jeweils m.w.H.).


5.4 Die Qualifikation der Strassenbauarbeiten bzw. die Prüfung allfällig entstehender Sondervorteile ist jeweils anhand des konkreten Strassenbauprojekts vorzunehmen. Dabei ist der Zustand der Verkehrsanlage vor und nach Durchführung der baulichen Massnahmen zu vergleichen. In diesem Zusammenhang ist zu beurteilen, ob der X.____weg im Zustand vor dem Ausbau die gemäss Strassennetzplan zu stellenden Anforderungen an die Erschliessung erfüllt. Die Frage ist nach den heutigen Verhältnissen zu beurteilen und nicht danach, ob allenfalls die seinerzeitige Erschliessung gewährleistet war. Letztlich muss das ganze Gebiet, worin eine Parzelle liegt, als genügend erschlossen gelten. Dies ist zu verneinen, wenn der Zustand der vorbestehenden Strasse lediglich als behelfsmässige Erschliessung für einige wenige überbaute Grundstücke genügt hat (AGVE 2001 S. 454 ff., E. 5.3.1 m.w.H.). Eine vollständig ausgebaute und den Erschliessungsanforderungen genügende Strasse liegt nach der ständigen Rechtsprechung des Enteignungsgerichts vor, wenn die Strasse einen Kieskoffer, einen Belag, Randabschlüsse, eine Strassenentwässerung und - sofern im Bau- und Strassenlinienplan vorgesehen - ein Trottoir aufweist (Urteil des Enteignungsgerichts vom 18. November 2010 [650 09 82] E. 4.5, Urteil des Enteignungsgerichts vom 4. Januar 2008 [650 07 119] E. 4.2; vgl. auch: Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom 28. August 1986, in: ZGGVP 1985-1986 S. 32 ff., E. 4; Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau vom 25. August 1982, in: AGVE 1982 S. 154 ff., E. 2a).


5.5 Im Rahmen des vorliegenden Strassenbauprojekts wurde der X.____weg


- der bis anhin lediglich von der Strasse Y.____ bis zur Grenze der Parzelle Nr. 444 reichte - verlängert. Er findet nun im Norden einen Anschluss an den Z.____weg. Ein grosser Teil des X.____wegs wurde dazu erstmals erstellt. Unbestrittenermassen entsteht den nördlich der Parzelle Nr. 444 liegenden Parzellen ein neuer Erschliessungsvorteil durch den nunmehr verlängerten X.____weg. Sie werden durch das Strassenbauprojekt neu erschlossen und erlangen zum Teil erstmals Baureife. (…) Es ist folglich anzunehmen, dass es sich dabei um eine Neuanlage im Sinne der soeben erwähnten Rechtsprechung handelt.


5.6 Zu beachten ist jedoch, dass die Parzelle der Beschwerdeführenden bereits vorher an eine Verkehrsfläche angrenzte. Fraglich und zu prüfen ist vorliegend somit, ob auch die Parzelle der Beschwerdeführenden einen Sondervorteil erfährt, obwohl ihre Parzelle bereits vor dem Strassenbauprojekt "X.____weg" über eine Zufahrt verfügte. Die Verkehrsfläche des X.____wegs befindet sich seit einer Baulandumlegung im Jahre 1978 in Gemeindeeigentum. Der vorbestehende Teil des X.____wegs reichte vom Y.____weg bis an die Grenze der Parzelle Nr. 444. Er wurde Mitte der 1990-er Jahren von der Bauherrschaft der heutigen Parzellen Nr. 444 und Nr. 507 privat erstellt und diente der Erschliessung dieser Parzellen. Aus einem Schreiben der Bauherrschaft vom 15. August 1995, das von der Beschwerdegegnerin eingereicht wurde, geht hervor, dass sich die Bauherrschaft der heutigen Parzellen Nr. 444 und Nr. 507 zur Erstellung einer Zufahrt ohne Anspruch auf Rückerstattung oder Anrechnung an künftige Strassenbeiträge verpflichtet hat.


Der damals erstellte Abschnitt des X.____wegs wies eine Breite von 3 bis 3.5 Meter auf und verfügte gemäss unbestrittenen Angaben der Beschwerdegegnerin weder über beidseitige Randabschlüsse noch über eine Entwässerung. Vielmehr wurde die Strasse über die rechte Strassenseite, wo Randabschlüsse gänzlich fehlten, über die Schulter auf Parzelle Nr. 337 sowie über die Y.____ entwässert. Die Randabschlüsse an der linken Seite der Strasse waren gemäss den eingereichten Unterlagen nicht einbetoniert und wackelten. Der Unterbau der Strasse betrug insgesamt 28 cm. Eine Beleuchtung war nicht vorhanden. Zusammenfassend ist festzustellen, dass der vorbestehende Abschnitt des X.____wegs nicht als vollständig ausgebaut im Sinne der Rechtsprechung gelten konnte. Aufgrund des vorbestehenden Zustands ist vielmehr davon auszugehen, dass es sich beim privat erstellten Strassenabschnitt lediglich um ein Provisorium handelte. Dieses sollte lediglich der behelfsmässigen Erschliessung der Parzellen Nr. 444 und Nr. 507 dienen, wobei das übrige Gebiet, worin die betroffene Parzelle liegt, bloss ungenügend erschlossen war. Die vorbestehende Erschliessung der betroffenen Parzelle ist folglich unter Berücksichtigung der unter Erwägung 5.4 dargestellten Rechtsprechung insgesamt als ungenügend anzusehen.


5.7 Anlässlich des Augenscheins konnte sich das Gericht ein Bild des nunmehr fertig gestellten Strassenbauprojekts machen. Der X.____weg wurde verlängert und mündet nun im Norden in den Z.____weg. Die gesamte Strasse wurde einheitlich gemäss geltendem Bau- und Strassenlinienplan auf 5 Meter verbreitert bzw. ausgebaut. Eingebaut wurden ausserdem eine frostsichere Kofferung, eine Beleuchtung mit Kandelabern, Randabschlüsse und eine Entwässerung. Durch eine Veränderung des Gefälles der Strasse wurde die Entwässerung zusätzlich verbessert.


Mit dem vorliegenden Strassenbauprojekt wird der X.____weg erstmals von der Gemeinde gestützt auf einen Bau- und Strassenlinienplan und entsprechend den technischen Anforderungen ausgebaut. Die Erschliessung der angrenzenden Parzellen vermag damit erstmals den Vorgaben des Raumplanungs- und Baugesetzes vom 8. Januar 1998 (RBG, SGS 400) zu genügen, womit grundsätzlich ein Vorteil für die angrenzenden Parzellen verbunden sein kann (Urteil des Enteignungsgerichts vom 17. November 2011 [650 10 16] E. 4.9; vgl. auch: Urteil des Enteignungsgerichts vom 17. Dezember 2007 [650 06 177] E. 5.4 ff.). Durch die neu erstellte Anbindung zum Z.____weg erhalten die Beschwerdeführenden ausserdem einen zusätzlichen Anschluss an das kommunale Strassennetz.


Die Verbreiterung der Strasse auf 5 Meter ermöglicht es den Anstössern und ihren Besuchern und Zubringer, ohne Schwierigkeiten an anderen Fahrzeugen vorbeizukommen, gefahrenlos vor den Häusern zu parkieren und ungehindert ein- und auszusteigen und Güter umzuladen (vgl. AGVE 1981 S. 152 ff. E. 7a; Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 26. März 2003, in: TVR 21/22 S. 109 ff., E. 2c; vgl. auch Urteil des Enteignungsgerichts vom 5. April 2001 [650 00 236] E. 7 und 8).


Die durchgehenden beidseitigen Randabschlüsse und die eingebaute Entwässerung inklusive Veränderung des Gefälles dienen dem schnellen Abfluss des Oberflächenwassers und verhindern, dass dieses - wie bisher - auf die angrenzenden Grundstücke abfliesst. Gleichzeitig wird verhindert, dass sich nach Niederschlägen auf der Fahrbahn Wasserlachen bilden, welche insbesondere im Winter die Sicherheit der Strassenbenützer und -benützerinnen gefährden und die Benutzbarkeit der Strasse einschränken. Mit dem Anbringen von Randabschlüssen wird sodann der Strassenraum klarer abgegrenzt, was ebenfalls der Sicherheit dient (Urteil des Enteignungsgerichts vom 18. November 2010 [650 09 81] E. 4.5; vgl. auch Entscheid der Schätzungskommission des Kantons Aargau vom 27. März 2001, in: AGVE 2001 S. 454 ff., E. 5.3.2.3).


Zwar führen die Beschwerdeführenden unter Hinweis auf die Rechtsprechung zu Recht aus, dass die Verstärkung bzw. der Einbau einer frostsicheren Kofferung für sich alleine genommen nicht zur Bejahung eines Erschliessungsvorteils führt (vgl. Urteil des Enteignungsgerichts vom 27. Mai 2010 [650 08 109] E. 4.8, vgl. auch: Blumer, a.a.O., S. 68 f.; AGVE 1985 S. 168 E. 3c, AGVE 2002 S. 173 f. E. 4d). Tatsächlich ist von der neueren Rechtsprechung des Enteignungsgerichts festgestellt worden, dass durch solche Arbeiten die Erschliessung der betroffenen Grundstücke nicht verändert wird, wenn die Strasse bereits bis anhin den Erschliessungsanforderungen genügte (Urteil des Enteignungsgerichts vom 28. August 2006 [650 05 35] E. 5.6). Davon kann vorliegend jedoch keine Rede sein. Der vorbestehende Abschnitt des X.____wegs stellte lediglich ein Provisorium dar, das die Erschliessung des Gebiets um den X.____weg lediglich ungenügend gewährleistete. Ausserdem entsteht der Erschliessungsvorteil im vorliegenden Fall nicht alleine durch den Einbau einer frostsicheren Kofferung, sondern durch die Erstellung einer vollständig ausgebauten, den technischen und rechtlichen Anforderungen genügenden Strasse. (…)


6.


6.1 Die Beschwerdeführenden machen ferner geltend, dass der Grund für den Ausbau im Verkauf der bisher unüberbauten Parzellen Nr. 22 und Nr. 358 an eine Immobilien AG liege. Die Erwerberin dieser durch das Bauprojekt nunmehr erschlossenen Grundstücke sei alleinige Nutzniesserin des Strassenbaus und deshalb mit der gesamten auf die Grundeigentümer zu überwälzenden Beitragssumme zu belasten. (…)


6.2 Die vorliegend umstrittene Abgabe stellt einen Vorteilsbeitrag dar. Wie bereits unter Erwägung 5.2 ausgeführt, sind Vorteilsbeiträge Abgaben, die als Ausgleich jenen Personen auferlegt werden, denen aus einer öffentlichen Einrichtung ein wirtschaftlicher Sondervorteil erwächst (Ulrich Häfelin/Walter Müller/Felix Uhlmann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 6. Auflage, Zürich 2010, N 2647). Der entstehende Sondervorteil ist somit Auslöser, causa, der Abgabeerhebung, stellt jedoch gleichzeitig das massgebende Bemessungskriterium dar (Alexander Ruch, Die Bedeutung des Sondervorteils im Recht der Erschliessungsbeiträge, in: ZBl 1996, S. 529 ff., S. 534). Keine Rolle spielt bei der Beitragserhebung das Verursacherprinzip (Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 29. September 2009, in: BVR 2007 S. 70 ff., E. 3.2). Ob das Gemeinwesen die beitragsauslösende Erschliessungsleistung auf Begehren eines Pflichtigen oder von sich aus erbracht hat, ist nicht wesentlich (Adrian Hungerbühler, Grundsätze des Kausalabgaberechts, in: ZBl 2003, S. 505 ff., S. 510). Das Motiv für die Durchführung eines Strassenbauprojekts ist demnach beitragsrechtlich unmassgeblich, sofern allen belasteten Parzellen aus dem Strassenbauprojekt ein Sondervorteil zukommt (Urteil des Enteignungsgerichts vom 17. November 2011 [650 10 16] E. 7.5). Dies ist nach dem unter Erwägung 5 Ausgeführten ohne Weiteres zu bejahen.


Entscheid Nr. 650 11 470 vom 8. März 2012



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