03-01 Höhe der Entschädigung für einen an den Strassenbau abzutretenden Landstreifen

Der mit einem Bauverbot belegte Landstreifen zwischen Strasse und Baulinie - bei überbauten Grundstücken ungeachtet seiner Gestaltung als Vorgartenland bezeichnet - wird tiefer als das übrige Land bewertet, wenn die bauliche Nutzung des Grundstücks nicht beeinträchtigt wird (E. 3c).


Gestatten die kommunalen Bestimmungen den Einbezug des Landes, das für Strassen und Anlagen abgetreten wird, in die Nutzungsberechnung, so bleibt durch eine Nutzungsumlagerung weiterhin die ganze Parzellenfläche für die Bebauungs- und Nutzungsziffer bestimmend (E. 3c).


Die enteignete Person hat sich die Nutzungsumlagerung (Nutzungsprivileg) als Teil der ihr zustehenden Entschädigung anrechnen zu lassen, ansonsten sie durch die Enteignung wirtschaftlich besser gestellt wäre, als vorher (E. 3c).



Aus dem Sachverhalt:

X ist Eigentümer einer Parzelle, welche an das Strassenbauprojekt Y angrenzt. Für den geplanten Strassenbau hat X eine Fläche von 60 m 2 abzutreten und wird ihm eine Entschädigung von Fr. 300.--/m 2 durch die Gemeinde angeboten.


X machte beim Gemeinderat Seltisberg eine höhere Entschädigungsforderung für die zu enteignende Fläche geltend. Er führte aus, die Entschädigung in Höhe von Fr. 300.-- für die seiner Ansicht nach unverhältnismässig grosse Fläche erstklassigen Baulandes, welche er an den Strassenbau abzutreten habe, stehe in keinem Verhältnis zum luxuriösen Ausbaustandard, der für die geplante Strasse angestrebt werde. Der Gemeinderat Seltisberg übermittelte gestützt auf § 40 Abs. 3 in Verbindung mit § 40 Abs. 4 des kantonalen Gesetzes über die Enteignung vom 19. Juni 1950 (EntG) die Klage an das Steuer- und Enteignungsgericht, Abteilung Enteignungsgericht. Im selben Schreiben vertrat der Gemeinderat die Ansicht, ein Landerwerbspreis von Fr. 300.--/m 2 sei in letzter Zeit bei allen Strassenbauten in der Gemeinde Seltisberg bezahlt worden.


An der Vorverhandlung vor der Präsidentin des Steuer- und Enteignungsgerichts, Abteilung Enteignungsgericht, machte der Kläger eine Entschädigung in Höhe von Fr. 450.--/m 2 plus Nutzungsumlagerung geltend, weil der von der Gemeinde angebotene Landpreis in keinem Verhältnis zu den in der Gemeinde Seltisberg gehandelten Landpreisen für Bauland an bester Lage stehe.



Aus den Erwägungen:

1. Strittig ist die Höhe der Entschädigung, welche die Beklagte für die formelle Enteignung eines vom Kläger an den Strassenbau abzutretenden Landstreifens zu bezahlen hat. (...)


2. (...)


3. a) Eine Enteignung kann gestützt auf Art. 26 Abs. 2 BV und § 17 EntG nur gegen volle Entschädigung erfolgen, wobei die Entschädigung in Geld als Kapitalzahlung oder als wiederkehrende Leistung zu entrichten ist, wenn Gesetz oder Abrede nichts anderes bestimmen (§ 18 Abs. 1 EntG). An Stelle der Geldleistung kann laut § 18 Abs. 2 EntG ganz oder teilweise eine Sachleistung (Realersatz) treten. Der Enteignete soll bei einer Enteignung keinen Verlust erleiden, aber auch keinen Gewinn erzielen; wirtschaftlich ist der Enteignete gleich zu stellen, wie ohne Landabtretung (BGE 122 I 168 E. 4b/aa mit Verw.). Bei einer Teilenteignung, wie sie hier zur Diskussion steht, kann die Festsetzung des Bodenwerts zudem nicht losgelöst von der Frage erfolgen, ob das Restgrundstück durch die Abtretung einen Minderwert erfahren hat (Art. 19 Abs. 1 lit. b EntG) oder ob dem Enteigneten weitere nach Art. 19 Abs. 1 lit. c EntG zu entschädigende Nachteile entstanden sind (BGE 122 I 168 E. 4b/aa, 105 Ib 327 E. 1c). (...)


3. b) Nach konstanter und gefestigter Praxis des Steuer- und Enteignungsgerichts ist für die Ermittlung der Entschädigung bei formeller Enteignung in der Regel auf den Verkehrswert im Zeitpunkt der Hauptverhandlung vor erster Instanz abzustellen (Entscheid des Enteignungsgerichts vom 26. August 1982 i.S. E., S. 14 ff.; BLVGE 1983/84 Ziff. 14.2 E. 5b; Entscheid des Enteignungsgerichts vom 16. Januar 1992 i.S. EWG R., in: BLVGE 1992 Ziff. 13.1 E. 6). Der Verkehrswert wird nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts, der auch die erwähnten Entscheide folgen, mit Hilfe der statistischen Methode oder Vergleichsmethode ermittelt (René Rhinow/Beat Krähenmann, Verwaltungsrechtsprechung, Ergänzungsband, Basel und Frankfurt am Main 1990, Nr. 128 B IV d, m.Hw.; BGE 115 Ib 410 E. 2c; Martina Fierz, Der Verkehrswert von Liegenschaften aus rechtlicher Sicht, Zürich 2001, S. 143 ff.). Der Verkehrswert der enteigneten Liegenschaft entspricht dem Erlös, der bei Veräusserung im freien Handel am massgebenden Stichtag objektiverweise hätte erzielt werden können (BGE 122 I 168 E. 3; 122 II 246 E. 4a; ZBl 99 [1998] 141; BGE 106 Ib 223 E. 3a; Heinz Hess/Heinrich Weibel, Das Enteignungsrecht des Bundes, Bd. I, Art. 19 N 50). Was eine unbestimmte Vielzahl von Kaufsinteressenten auf dem freien Markt für das enteignete Grundstück bezahlt hätte, lässt sich am Zuverlässigsten aufgrund der tatsächlich gehandelten Preise für vergleichbare Liegenschaften ermitteln. Allerdings führt diese Methode nur zu richtigen Resultaten, wenn Vergleichspreise in genügender Zahl für Objekte ähnlicher Beschaffenheit zur Verfügung stehen. An diese Voraussetzung dürfen jedoch nicht zu hohe Anforderungen gestellt werden. So erfordert die Vergleichbarkeit nicht, dass in Bezug auf Lage, Grösse, Erschliessungsgrad und Ausnützungsmöglichkeit praktisch Identität besteht. Den Unterschieden von Vergleichsgrundstücken kann durch Preiszuschläge oder -abzüge Rechnung getragen werden. Auch braucht das Vergleichsgrundstück nicht im selben Quartier zu liegen, sofern es hinsichtlich Lage, Umgebung, Ausnützungsmöglichkeit usw. dem Schätzungsobjekt ähnlich ist. In der Regel lässt sich selbst aus vereinzelten Vergleichspreisen auf das allgemeine Preisniveau schliessen. Sind nur wenige Kaufpreise bekannt, müssen diese besonders sorgfältig untersucht und können sie nur zur Entschädigungsbestimmung verwendet werden, wenn dem Vertragsabschluss nicht - wie etwa bei Verkäufen unter Verwandten sowie bei Arrondierungs- und ausgesprochenen Spekulationskäufen - unübliche Verhältnisse zugrunde liegen. Vereinzelt wird sogar die Ansicht vertreten, drei bis fünf Vergleichsobjekte würden ausreichen, um ein repräsentatives Mittel zu erhalten (Martina Fierz, a.a.O., S. 151). Ausgehend von den durch die Statistik ausgewiesenen und für eine bestimmte Gemeinde oder einen Teil derselben geltenden Landpreisverhältnissen führt die Gegenüberstellung vergleichbarer Objekte unter zusätzlicher Berücksichtigung allgemeiner Faktoren der Immobilienmarktentwicklung wie Zeitablauf, Umfang von Angebot und Nachfrage etc. zu einem Verkehrswertresultat, das wie das nachgängige Preisbild in der überwiegenden Zahl der Fälle zeigt, dem wirtschaftlichen Wert des Enteignungsobjekts weitgehendst entspricht (vgl. auch Urteil des Enteignungsgerichts vom 25. April 1974 i.S. R. S.-S., E. 1c). (...)


Gemäss dem gültigen Zonenplan Siedlung der Gemeinde Seltisberg (Nachführungsplan 1996) liegt die Parzelle (südlicher Teil) zu ca. 1/3 in der Wohnzone WG2 und zu ca. 2/3 in der Landwirtschaftszone (nördlicher Teil). Der von der Enteignung betroffene Teil von 60 m 2 bildet die südliche Parzellengrenze. Die beim kantonalen Amt für Liegenschaftsverkehr angeforderte Landpreisstatistik der Gemeinde Seltisberg mit Datum 28. Februar 2003 führte zu einem durchschnittlichen Landpreis von rund Fr. 455.--/m 2 . (...)


Der ermittelte statistische Verkehrswert der Zone W2 liegt bei gerundet Fr. 455.--/m 2 . Angesichts des Umstands, dass die für die Zone W2 gehandelten Preise einiges tiefer liegen als diejenigen der Zone WG2 und für die Zone W2 weniger Vergleichszahlen vorhanden sind, hält das Gericht die Annahme eines durchschnittlichen Verkehrswerts von Fr. 521.--/m 2 für Land in der Zone WG2 für angemessen.


3. c) Nachdem der Verkehrswert von Parzelle Nr. [...] GB Seltisberg feststeht, ist als Nächstes zu beurteilen, ob die von der Beklagten für die abzutretende Fläche von 60 m 2 offerierte Barentschädigung in der Höhe von Fr. 300.--/m 2 zuzüglich zur Sachentschädigung in Form der Nutzungsumlagerung dem Erfordernis der vollen Entschädigung i.S. von Art. 26 Abs. 2 BV und Art. 17 und 19 EntG genügt. (...)


Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine Teilenteignung. Die vom Kläger an den Strassenbau abzutretende Fläche bildet das südliche Ende seiner Parzelle und grenzt an die Y-Strasse. Nach Lehre und Rechtsprechung wird der mit einem Bauverbot belegte Landstreifen zwischen Strasse und Baulinie - bei überbauten Grundstücken ungeachtet seiner Gestaltung als Vorgartengebiet bezeichnet - tiefer als das übrige Land bewertet, wenn die Abtretung die bauliche Nutzung des Grundstücks nicht beeinträchtigt. Er ist "den übrigen Teilen einer Bauparzelle nur dort gleichwertig, wo die Landpreise nicht besonders hoch sind und der Liegenschaftshandel daher auf die Differenzierung kein Gewicht legt, ferner dort, wo eine offene Überbauung vorgesehen ist und ein Baugrundstück ausser der Gebäudefläche grösseres Umgelände haben muss, das im Handel gleich bewertet wird wie der zu überbauende Teil. Wo dagegen hohe Baulandpreise gelten und diese massgeblich durch die bestmögliche bauliche Ausnützung bestimmt werden, richtet sich der Wert einer Teilfläche vorwiegend nach deren Einfluss auf die Überbauung des Grundstücks. Ein Teil, der abgetrennt werden kann, ohne die bauliche Ausnützung zu beeinflussen, ist ein minderwertiger Flächenabschnitt" (Heinz Hess/Heinrich Weibel, a.a.O., Art. 19 N 106 m.Verw.).


Der Entzug von Vorgartengebiet resp. Land vor der Baulinie für Strassenbauten stellt den häufigsten Fall der Teilenteignung dar. Zwei Prinzipien sind vor allem zu beachten: Zum einen hat die Enteignungsentschädigung nur die tatsächliche Vermögenseinbusse zu ersetzen und darf den Enteigneten nicht bereichern. Zum andern hängt der Wert eines Grundstücks von seinen Nutzungsmöglichkeiten ab. (...)


Bei einer Enteignung des Vorgartens eines unüberbauten Grundstücks, das für den Bau von Renditehäusern vorgesehen ist, hängt die Höhe der Entschädigung davon ab, wie das Grundstück nach dem Entzug baulich noch genutzt werden kann. Wird eine Überbauung durch Ausnutzungs-, Überbauungsziffern etc. bestimmt, wird sie durch den Verlust des Vorgartens beeinträchtigt und vermindert, da die massgebende Grundstücksfläche verringert wird. Die Verkleinerung der baulichen Nutzung wird dadurch abgegolten, dass man den Vorgarten zum Verkehrswert, also zu Baulandpreisen entschädigt. Beeinträchtigt der Verlust des Vorgartens dagegen die bauliche Ausnutzung nicht, wie zum Beispiel in Zonen, wo eine geschlossene Überbauung möglich ist, ist es unangebracht, den Vorgarten mit Baulandpreisen abzugelten (Peter Wiederkehr, a.a.O., S. 71). (...)


Die Parzelle des Klägers liegt zu etwas mehr als einem Drittel in der Zone WG2, die gemäss Zonenreglement der Gemeinde Seltisberg vom 27. Oktober 1989 zweigeschossige Wohn- und Geschäftsbauten mit einer Bebauungsziffer von 22 % und einer Nutzungsziffer von 40% der Parzellenfläche erlaubt. Der nördliche Teil der Parzelle befindet sich in der Landwirtschaftszone und ist somit nicht überbaubar. Die Parzelle ist derzeit lediglich mit einem Holzschopf überbaut, wie sich anlässlich des gerichtlichen Augenscheins gezeigt hat. Sowohl von der Lage wie auch von der Grösse her eignet sich der in der Bauzone befindliche Teil für die Erstellung eines Ein- oder Zweifamilienhauses, eines mittleren Gewerbebetriebs oder von zwei Einfamilienhäusern. Bei der in der Zone WG2 zulässigen Nutzungs- und Bebauungsziffer (vgl. Art. 7 ZRS) würden dem Kläger bei der Enteignung von 60 m 2 bei der Nutzungsziffer 24 m 2 und bei der Bebauungsziffer 13,2 m 2 wegfallen. (...)


Art und Mass der Nutzung einer Parzelle wird durch die Zonenvorschriften bestimmt (§ 86 Raumplanungs- und Baugesetz [RBG] vom 8. Januar 1998). (...) Gemäss dem Zonenreglement Siedlung (ZRS) der Einwohnergemeinde Seltisberg vom 27. Oktober 1989, welches in seinem Anhang den verbindlichen Wortlaut der gemäss Art. 4 ZRS mit beschlossenen kantonalen Zonenreglements-Normalien 1963 (ZR 63) anführt, kann der Gemeinderat gestützt auf ZR 5/63 Ziff. 2 Abs. 3 den Einbezug von für Strassen und Anlagen abgetretenem Land bei der Nutzungsberechnung gestatten, sofern dies bei der für das Land zu bezahlenden Entschädigung berücksichtigt wird. (...) In der Gemeinde Seltisberg wird bei Landabtretungen von Privaten an einen Strassenbau jeweils die Nutzungsumlagerung (Nutzungsprivileg) gewährt. (...)


Durch die Nutzungsumlagerung bleibt für die Berechnung der Bebauungs- und Nutzungsziffer weiterhin die ganze Parzellenfläche bestimmend, weshalb die Enteignung keinen Einfluss auf das realisierbare Bauvolumen hat. Die Intensität der baulichen Nutzung wird trotz Reduktion der überbaubaren Fläche insgesamt nicht geschmälert. Einzig die Gestaltungsfreiheit hinsichtlich des Grundrisses einer allfälligen Überbauung erfährt durch die Verkleinerung der Fläche eine geringfügige Einschränkung. Ein Minderwert im Sinne von § 19 Abs. 1 lit. b EntG erwächst der Restparzelle dadurch aber nicht. Das dem Kläger gewährte Nutzungsprivileg ist deshalb bei der Landentschädigung für das Vorgartenland zu berücksichtigen. Der Kläger hat sich die Nutzungsumlagerung als Teil der ihm zustehenden Entschädigung anrechnen zu lassen, ansonsten er durch die Enteignung wirtschaftlich besser gestellt wäre, als vor der Enteignung, was dem Grundsatz der vollen Entschädigung zuwider laufen würde.


Abzuklären bleibt, ob die Barentschädigung in der Höhe von Fr. 300.--/m 2 zuzüglich zur Sachentschädigung in Form der Nutzungsumlagerung vor dem verfassungsmässigen Recht der vollen Entschädigung bei Enteignungen standhält (Art. 26 Abs. 2 BV und § 17 EntG).


Es ist rechnerisch nicht genau feststellbar, welche Entschädigung der wirklichen Differenz des Parzellenwerts vor und nach der Enteignung entspricht; diese kann nur nach pflichtgemässem Ermessen geschätzt werden (Peter Wiederkehr, a.a.O., S. 72). Die Enteignungsentschädigung hat sich jedoch immer nach dem funktionellen Wert zu bemessen, der dem abzutretenden Streifen des Grundstücks zugekommen ist oder ohne Abtretung in naher Zukunft zugekommen wäre. Die dem Kläger seitens der Beklagten angebotene Barentschädigung von Fr. 300.--/m 2 entspricht 57,6 % des Verkehrswerts von Fr. 521.--/m 2 . Die Nutzungsumlagerung, welche dem Kläger auf seiner Restparzelle dieselbe Intensität der baulichen Nutzung ermöglicht, wie vor der Enteignung, wird mit 42,4% gewichtet. Angesichts der Bedeutung der Nutzungsumlagerung im vorliegenden Fall und dem Wertzuwachs, den die Parzelle durch die Umlagerung der Nutzung konkret erfährt, erachtet das Gericht die Gewichtung der Sachentschädigung als eher tief. Mit ihrem Angebot, den der Überbauung entzogene Landstreifen mit 42,4 % des Verkehrswerts zu entschädigen, überschreitet demgemäss die Gemeinde als Enteignerin ihr Ermessen nicht und die reduzierte Verkehrswertentschädigung von Fr. 300.--/m 2 zuzüglich Nutzungsumlagerung stellt keine Verletzung der Eigentumsgarantie dar. (...)


Entscheid Nr. 2003/21 vom 27. Juni 2003



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