06-03 Unzulässige Ungleichbehandlung von Ersatzbauten und Neubauten / Verstoss gegen das Rückwirkungsverbot

Es ist mit dem Rechtsgleichheitsgebot nicht vereinbar, wenn der einmalige Wasseranschlussbeitrag bei Um- und Erweiterungsbauten nach der Erhöhung des Gebäudeversicherungswerts, bei Ersatzbauten hingegen nach den Regeln für Neubauten bemessen wird (E. 7).


Es verstösst gegen das Rückwirkungsverbot, wenn bei Ersatzbauten nicht nur für den entstandenen Mehrwert, sondern auch für den Wert des bereits früher angeschlossenen Grundstücks Beiträge erhoben werden (E. 8).



Aus dem Sachverhalt:

Im Jahr 1711 wurde auf der Parzelle Nr. 1017 im Dorfkern von Gelterkinden die Liegenschaft "X." erstellt. 1936 fand ein tiefgreifender Umbau der Parzelle statt. Die zuletzt als Wohnhaus und Wirtschaft genutzte Liegenschaft wurde 1998 von der Basellandschaftlichen Gebäudeversicherung (BGV) auf einen Wert von Fr. 1'297'400.25 geschätzt. Im Jahr 2003 wurde die Liegenschaft abgebrochen und auf derselben Parzelle wurde ein neues Wohn- und Geschäftshaus erstellt, welches von der BGV auf einen Versicherungswert von Fr. 2'021'200.00 geschätzt wurde. Am 29. Juni 2005 verfügte die Einwohnergemeinde Gelterkinden gegenüber den Eigentümern der Parzelle Nr. 1017 einen Wasseranschlussbeitrag auf der Basis des gesamten neuen Gebäudeversicherungswerts der Baute von Fr. 2'021'200.00. Die Grundeigentümer erheben dagegen Beschwerde und stellen den Antrag, es sei der Wasseranschlussbeitrag lediglich auf der Basis des Mehrwerts des Neubaus gegenüber der ursprünglich bestehenden Baute zu erheben.



Aus den Erwägungen:

(…)


7. Rechtsgleichheitsgebot


Nach ständiger Rechtsprechung kommt der mit einer Neuerschliessung einhergehende Vorteil dem Grundstück zu (vgl. auch Art. 18 Abs. 1 WR). Auch als Folge des Akzessionsprinzips, das ein einheitliches Schicksal von Boden und Gebäuden bewirkt, bezieht sich der Sondervorteil auf das Grundstück und nicht auf einzelne Gebäude. Der Vorteil der Erschliessung fliesst dem Grundstück zu und sowohl die Erschliessung eines Grundstücks als auch der Anschluss an die Erschliessungsanlagen gehen mit dem Abbruch einer Liegenschaft nicht unter (vgl. Peter Karlen, Die Erhebung von Abwasserabgaben aus rechtlicher Sicht, URP 1999, S. 568). Die Erschliessung der Parzelle der Beschwerdeführenden erfolgte bereits vor Jahrzehnten, dasselbe gilt für den Anschluss der ehemaligen Liegenschaft "X.______" an das Wasserversorgungsnetz. Es handelt sich vorliegend nicht um einen Neubau "auf der grünen Wiese" im Sinne einer Ersterschliessung, sondern um den wesensgleichen Wiederaufbau eines Gebäudes nach freiwilligem Abbruch. Aus den Bauplänen ist ersichtlich, dass der Grundriss des Gebäudes praktisch unverändert geblieben ist und sich das Gebäudevolumen gemäss den Belegen der Gebäudeversicherung um lediglich 171m 3 erhöht hat. Anlässlich der Parteiverhandlung konnte der Vertreter der Gemeinde auch nicht nachweisen, dass die Leitungsanschlüsse neu erstellt oder gar das Leitungssystem aufgrund des Ersatzbaus wesentlich verbessert worden ist. Somit ist davon auszugehen, dass der zusätzliche Erschliessungsvorteil für den Ersatzbau keinesfalls demjenigen für einen Neubau entspricht, sondern dass die Inanspruchnahme des Wasserleitungsnetzes durch den Ersatzbau mit derjenigen vergleichbar ist, die auch bei einem Umbau entstanden wäre. Sowohl im Falle des Um- und Erweiterungsbaus wie auch des Abbruchs und Neubaus liegt lediglich eine Mehrbeanspruchung einer bereits bestehenden Beanspruchung von Erschliessungsanlagen vor (vgl. Peter J. Blumer, Abgaben für Erschliessungsanlagen nach dem Thurgauer Baugesetz, Zürich 1989, S. 141). Es ist deshalb nahe liegend, in beiden Fällen auf die durch den Um- und Erweiterungsbau oder durch den Ersatzbau bewirkte Mehrbelastung des Netzes abzustellen. Bildet der Gebäudeversicherungswert die Bemessungsgrundlage, ergibt sich der schematisch berechnete Mehrwert aus der Differenz der Gebäudeversicherungswerte von Alt- und Neubau. In praktischer Hinsicht ist zwischen Um- und Erweiterungsbauten und Ersatzbauten keine scharfe Trennung möglich. So kann bei Umbauten die neu geschaffene Bausubstanz derart dominieren, dass der Vorgang einem eigentlichen Ersatzbau gleichkommt (vgl. Urteil des Bundesgerichts [2P.78/2003] vom 1. September 2003, E. 3.6). In diesem Zusammenhang ist auf den Fall der "Auskernung" eines Gebäudes, bei der lediglich die Gebäudehülle bestehen bleibt und das Innere vollständig ersetzt wird, hinzuweisen (vgl. Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau, 2. Kammer, vom 28. November 2002, E. 4b/dd). Umgekehrt könnte die beitragsrechtliche Gleichbehandlung von Neubauten und Ersatzbauten zu sachlich unhaltbaren Ergebnissen führen. So würde eine Ersatzbaute selbst dann den vollen Beitrag auslösen, wenn sie effektiv einen tieferen Gebäudeversicherungswert aufweisen würde als die vorbestehende Baute. Demgegenüber wäre im Falle des Um- und Erweiterungsbaus stets nur der Mehrwert beitragspflichtig (vgl. Urteil des Bundesgerichts [2P.78/2003] vom 1. September 2003, E. 3.6). Zu denken ist auch an Fälle, bei denen der Abbruch eines Gebäudes nicht auf dem freien Willen der Eigentümerin oder des Eigentümers beruht, sondern zufolge äusserer Umstände bzw. höherer Gewalt eingetreten ist. Es würde jeglicher sachlichen Grundlage entbehren, diese Fälle beitragsrechtlich der freiwilligen erstmaligen Erstellung eines Neubaus gleichstellen. Im Übrigen stellt sich die Frage, ob es sich um einen Neubau nach Abbruch oder um einen Umbau handelt, auch anlässlich der Schätzung des Gebäudes durch die BGV. Die Beurteilung dieser Frage durch die BGV kann jedoch im Zusammenhang mit der Vorteilsbeitragsbemessung nicht massgeblich sein, sondern ist davon unabhängig von der verfügenden Behörde bzw. der Rechtmittelinstanz zu beantworten.


7.1. In der Lehre wird einhellig die Ansicht vertreten, dass die Beitragspflicht von Ersatzbauten analog derjenigen von Um- und Erweiterungsbauten zu regeln ist und Ersatzbauten somit beitragsrechtlich Neubauten nicht gleichgestellt werden können (vgl. Blumer, a.a.O., S. 141; Karlen, a.a.O., S. 568; Werner Spring/Rudolf Stüdeli, Die Finanzierung kommunaler Abwasseranlagen, Bern 1985, S. 51). Auch verschiedene kantonale Gerichte sprechen sich für eine Gleichbehandlung der beiden Sachverhalte aus (vgl. Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau, 2. Kammer, vom 28. November 2002; Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern [20192] vom 27. April 1998; Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Schwyz [718/04] vom 27. Februar 2004, E. 2.4). Nicht zuletzt befürwortet auch das Bundesgericht die beitragsrechtliche Gleichbehandlung der beiden Sachverhalte Um- und Erweiterungsbau einerseits sowie Abbruch und Neubau andererseits. Es stellt im Übrigen ausdrücklich fest, dass es im Falle von Vorteilsbeiträgen zur selben Auffassung gelangt wäre (vgl. Urteil des Bundesgerichts [2P.78/2003] vom 1. September 2003, E. 3.6).


Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Ersatzbauten mit Um- und Erweiterungsbauten vergleichbar sind und diese beiden Sachverhalte grundsätzlich rechtsgleich zu behandeln sind. Ein nachträglicher Anschlussbeitrag darf somit bei Ersatzbauten analog den Um- und Erweiterungsbauten nur in dem Umfang erhoben werden, als dem Grundstück ein zusätzlicher Vorteil zugekommen ist.


7.2. Ersatzbauten und Um- und Erweiterungsbauten sind auch in denjenigen Fällen, in denen noch nie ein Beitrag gezahlt wurde, rechtsgleich zu behandeln. Wenn die Beschwerdegegnerin geltend macht, dass bei Ersatzbauten zumindest in dieser Konstellation der gesamte Gebäudeversicherungswert beitragspflichtig sei, so verkennt sie, dass nach Art. 18 Abs. 2 WR bei Um- und Erweiterungsbauten immer nur der Mehrwert beitragspflichtig ist, auch wenn für das betreffende Grundstück noch nie ein Beitrag erhoben wurde. Eine Verletzung des Rechtsgleichheitsgebots liegt mit anderen Worten auch dann vor, wenn Ersatzbauten und Um- und Erweiterungsbauten auf Grundstücken, für die noch nie ein Beitrag gezahlt wurde, in beitragsrechtlicher Hinsicht ungleich behandelt werden. Der zitierte Berner Entscheid veranschaulicht diese Ungleichbehandlung treffend wie folgt: "Werden Grundeigentümerinnen und Grundeigentümer bei einem Neubau nach Abbruch für Leistungen zur Kasse gebeten, die in keinem Zusammenhang mit dem Neubau stehen und von anderen gegen keine oder eine geringere Gebühr bezogen werden können, so verstösst die Gemeinde - insbesondere mit Blick auf den Fall des Umbaus einer Liegenschaft - auch gegen das Rechtsgleichheitsgebot" (Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern [20192] vom 27. April 1998). Im Übrigen ist festzuhalten, dass Art. 18 Abs. 2 WR nicht die allfällige Anrechnung früherer Beitragsleistungen regelt. Diese Bestimmung beinhaltet vielmehr ein - wie dargelegt unzulässiges - Verbot der Beitragsberechnung bei Abbruch und Wiederaufbau nach der Wertdifferenz der Bauten. Die Reglementsauslegung der Beschwerdegegnerin, dass zumindest dann nachträglich Beiträge geschuldet sind, wenn früher noch keine Abgaben entrichtet wurden, würde zu einer Sonderabgabe führen, die im kommunalen Wasserreglement keine Grundlage findet und damit willkürlich ist (vgl. BGE 102 Ia 46, E. 3).


8. Rückwirkung


Die Beschwerdegegnerin macht geltend, dass eine vollständige Nacherhebung von Beiträgen im Falle eines Neubaus nach Abbruch insbesondere dann zulässig sei, wenn für ein Grundstück noch nie Beiträge erhoben worden seien. Die ehemalige Liegenschaft "X.______" sei letztmals im Jahr 1936 umgebaut worden und bei der erstmaligen Regelung der Beitragspflicht ebenso wie beim späteren Ausbau der Wasserversorgung habe man es unterlassen, für bereits angeschlossene Liegenschaften Beiträge vorzusehen. Diese Vorbringen sind auch unter dem Aspekt der Rückwirkung zu prüfen.


8.1 Eine echte Rückwirkung liegt vor, wenn neues Recht auf einen Sachverhalt angewendet wird, der sich abschliessend vor Inkrafttreten dieses Rechts verwirklicht hat (Häfelin/Müller, a.a.O., N 329). Gefordert ist somit, dass das neue Recht an ein Ereignis anknüpft, das in der Vergangenheit liegt und vor Erlass des neuen Rechts abgeschlossen wurde. Die echte Rückwirkung ist grundsätzlich unzulässig (Häfelin/Müller, a.a.O., N 330). Sie ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ausnahmsweise zulässig, wenn sie ausdrücklich angeordnet oder nach dem Sinn des Gesetzes klar gewollt ist, wenn sie zeitlich mässig ist, wenn sie keine stossenden Rechtsungleichheiten bewirkt, wenn sie sich durch triftige Gründe rechtfertigen lässt und wenn sie nicht in wohlerworbene Rechte eingreift (vgl. BGE 125 I 182, E. 2b/cc).


8.2 Wird von einem bereits an die Erschliessungsanlage angeschlossenen Grundstück ein Anschlussbeitrag erhoben, so handelt es sich um eine sog. nachträgliche Beitragserhebung (vgl. Blumer, a.a.O., S. 139). Unbestritten ist, dass nachträgliche Anschlussbeiträge erhoben werden können für den Mehrwert, der einer Liegenschaft durch Um- oder Ausbau zukommt. Ferner ist es zulässig, alle Grundstücke, d.h. auch die beim Erlass der Abgabevorschrift bereits angeschlossenen, gleichmässig zur Finanzierung zuzuziehen, wenn eine öffentliche Anlage neu erstellt oder in einer allen Liegenschaften zugute kommenden Weise erneuert oder ausgebaut wird (vgl. Urteil des Bundesgerichts [2P.45/2003] vom 28. August 2003, E. 5.3). Vorliegend ist weder eine generelle Unterstellung aller


überbauten Grundstücke angestrebt noch wird die Abgabepflicht von einem Werksneubau oder einer späteren Verbesserung der Anlage ausgelöst, an welche die Liegenschaft angeschlossen ist. Die nachträgliche Beitragspflicht wird ausschliesslich von der Erstellung der Ersatzbaute ausgelöst, und die Liegenschaft wird als einzelnes Grundstück Jahrzehnte nach dem Anschluss an das Wassernetz zu Anschlussbeiträgen daran verpflichtet. Damit liegt eine unzulässige Rückwirkung vor, weil nicht nur für den durch die Ersatzbaute entstandenen Mehrwert, sondern auch für den Wert des bereits früher angeschlossenen Teils des Grundstücks Beiträge erhoben werden. Zwar besteht der Vorteil des gewährten Anschlusses auch noch im Zeitpunkt des nachträglich erhobenen Beitrags, doch stellt der Anschluss als solcher einen abgeschlossenen Sachverhalt dar. Der ursprüngliche Anschluss und die spätere Gewährung einer verbesserten Erschliessung durch eine Ersatzbaute sind klar auseinander zu halten. Macht das Gemeinwesen die mit der Erstellung der öffentlichen Anlage entstandenen Kosten erst nachträglich geltend, so stellt dies eine unzulässige Rückwirkung dar (Urteil des Bundesgerichts [2P.45/2003] vom 28. August 2003, E. 5.3 und Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Schwyz [718/04] vom 27. Februar 2004, E. 2.3). Hat die Gemeinde es unterlassen, spätestens bei der Einführung der generellen Beitragspflicht für Wasseranschlüsse eine rechtsgleiche Regelung für bereits bestehende Anschlüsse vorzusehen, so kann sie heute auf diesen Beschluss nicht mehr zurückkommen. Die bestehende Erschliessung bzw. der vorbestandene Anschluss muss als grundsätzlich in das Wasserleitungsnetz eingekauft gelten. Die von der Beschwerdegegnerin vertretene Ansicht, der Brandlagerwert des früher angeschlossenen und überbauten Grundstücks sei nicht anzurechnen, weil dafür noch keine Vorteilsbeiträge erhoben wurden, kann auch deshalb nicht geschützt werden, weil sie gegen das Rückwirkungsverbot verstösst.


Entscheid Nr. 650 05 111 vom 5. Mai 2006


Bestätigt vom Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Verfassungs- und Verwaltungsrecht, am 24. Januar 2007



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