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Notwendigkeit für pflegerische und medizinische Betreuung im Rahmen einer Chronischkrankenpflege in einer psychiatrischen Anstalt; Verpflichtung zur Übernahme der Akutspitaltaxe


Wirtschaftlichkeitsgebot; indem das Gesetz auf das Interesse der Versicherten Bezug nimmt, wird zum Ausdruck gebracht, dass der Begriff der Wirtschaftlichkeit der Behandlung extensiv auszulegen ist (Art.32 und 56 KVG; E. 2b).


Der Krankenversicherer hat aus der Grundversicherung nicht für Mehrkosten aufzukommen, die sich daraus ergeben, dass sich die Versicherten in eine für intensive Pflege und Behandlung spezialisierte und damit teure Klinik begeben, obwohl sie einer solchen Behandlung nicht bedürfen (Art. 49 Abs. 3 KVG; E. 3b).


Das Kriterium der Wirtschaftlichkeit verlangt, dass ein Aufenthalt im Akutspital zum Spitaltarif nur so lange durchgeführt werden darf, als vom Behandlungszweck ein Aufenthalt im Akutspital notwendig ist (E. 3c).


Solange Chronifizierungstendenzen durch eine wiederkehrende und schubweise Verschlimmerung der gesundheitlichen Verfassung unterbrochen werden, bleibt der Versicherte spitalbedürftig. Bis dahin darf deshalb keine Anpassungszeit für den Übertritt in ein Pflegeheim oder eine Pflegeabteilung angeordnet werden (E. 6).



Sachverhalt

Die 1929 geborene B. ist als Mitglied der Krankenkasse A. unter anderem für die obligatorische Krankenpflegeversicherung versichert. Am 4. Juni 2003 trat die Versicherte in die KPK ein. Seither weilt sie im Rahmen eines stationären Aufenthalts in der genannten Klinik. Nach Intervention der behandelnden Oberärztin, Frau Dr. med. H., und nach Rücksprache mit ihrem Vertrauensarzt gewährte die Krankenkasse eine Kostengutsprache im Rahmen der Tagestaxen für Akutpatienten zunächst bis 31. März 2004, dann bis 30. April 2004, 31. Mai 2004 und schliesslich mit Schreiben vom 16. Juni 2004 bis 31. Juli 2004. Gleichzeitig teilte sie der Versicherten mit, dass ab 1. August 2004 nur noch die Kosten analog der BESA-Einstufung übernommen würden. Mit Verfügung vom 30. Juni 2004 lehnte die A. die Kostenübernahme der Akuttaxe in der KPK ab dem 1. August 2004 ab. Gleichzeitig erklärte sie sich jedoch bereit, die Pflegetaxen analog der BESA-Einstufung zu übernehmen. Eine dagegen erhobene Einsprache wies die A. mit Entscheid vom 8. Dezember 2004 ab. In den Erwägungen hiess sie die Einsprache jedoch insofern gut, als sie ihre Kostengutsprache für die Akuttaxe bis zum 31. Dezember 2004 verlängerte. Gegen diesen Einsprache-Entscheid erhob B. am 5. Januar 2005 Beschwerde beim Kantonsgericht, Abteilung Sozialversicherungsrecht, und beantragte, es sei der angefochtene Einspracheentscheid aufzuheben und die A. zur Übernahme der vollen Kosten bei Akutspitalbedürftigkeit zu verpflichten. Zur Begründung verwies sie im Wesentlichen auf ein Schreiben von Frau Dr. med. H. vom 5. Januar 2005, aus welchem zu entnehmen sei, dass sie immer noch spitalbedürftig sei und ihr Gesundheitszustand derzeit eine Betreuung in einem Alters- und Pflegeheim nicht ermöglichen würde.


In ihrer Vernehmlassung vom 28. Januar 2005 beantragte die A. die Abweisung der Beschwerde und die Bestätigung des Einspracheentscheids vom 8. Dezember 2004. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Krankheitszustand der Beschwerdeführerin chronisch sei. Die Spitalbedürftigkeit müsse bereits seit Mitte März 2004 in Frage gestellt werden. Ab Mai 2004 sei aufgrund des Krankheitsbilds keine akute Spitalbedürftigkeit mehr ausgewiesen. Indessen werde seither die Notwendigkeit für pflegerische und medizinische Betreuung im Rahmen einer Chronischkrankenpflege bestätigt. Für die Suche nach einem adäquaten Pflegeplatz sei deshalb im Sinne einer Übergangslösung vom 1. Mai bis 31. Juli 2004 eine Kostengutsprache für die Akuttaxe abgegeben worden. Gemäss der Beurteilung des Vertrauensarztes werde eine Erkrankung in der allgemeinen Medizin nach spätestens sechs Monaten als chronisch eingestuft. Eine über ein Jahr andauernde psychische Erkrankung sei demnach ebenfalls als chronisch zu bezeichnen.



Erwägungen

1. (…)


2.a) Nach Art. 24 des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG) vom 18. März 1994 übernimmt die obligatorische Krankenversicherung die Kosten für die Leistungen gemäss den Art. 25 - 31 KVG nach Massgabe der in den Art. 32 - 34 KVG festgelegten Voraussetzungen. Als allgemeine Leistungen bei Krankheit übernimmt die obligatorische Krankenpflegeversicherung gemäss Art. 25 Abs. 1 KVG die Kosten für Leistungen, die der Diagnose oder Behandlung einer Krankheit und ihrer Folgen dienen. Diese Leistungen umfassen unter anderem den Aufenthalt in der allgemeinen Abteilung eines Spitals (vgl. Art. 25 Abs. 2 lit. e KVG).


b) Nach Art. 32 KVG müssen die Leistungen nach den Art. 25 - 31 KVG wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein. Zweckmässigkeit und Wirksamkeit (als Teilgehalt der Zweckmässigkeit; vgl. Alfred Maurer, Das neue Krankenversicherungsrecht, Basel und Frankfurt am Main 1996, S. 51 f.) setzen voraus, dass die Massnahme geeignet ist, das angestrebte Ziel (Untersuchung, Behandlung, Pflege) zu erreichen. Welche von mehreren in Betracht fallenden Massnahmen als geeignet erscheint, ist im Rahmen dieser Voraussetzungen nicht entscheidend. Nach der gesetzlichen Regelung genügt es, dass die vom Arzt oder der Ärztin angeordnete Massnahme zweckmässig ist. Sind gleichzeitig mehrere Leistungen als zweckmässig zu qualifizieren, beurteilt sich die Leistungspflicht des Krankenversicherers unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit (vgl. Art. 56 KVG). Nach dieser Vorschrift haben die Krankenversicherer die Leistungen auf das Mass zu beschränken, das im Interesse der Versicherten liegt und für den Behandlungszweck erforderlich ist (Abs. 1). Für Leistungen, die über dieses Mass hinausgehen, kann die Vergütung verweigert werden (Abs. 2). Indem das Gesetz auf das Interesse der Versicherten Bezug nimmt, wird zum Ausdruck gebracht, dass der Begriff der Wirtschaftlichkeit der Behandlung nicht eng auszulegen ist (vgl. Kranken- und Unfallversicherung; Rechtsprechung und Verwaltungspraxis [RKUV] 1999 Nr. KV 64 S. 67 f. E. 3a).


3.a) Gemäss Art. 49 Abs. 3 KVG richtet sich die Vergütung bei Spitalaufenthalten nach dem (für den Aufenthalt in Akutspitälern im Sinne von Art. 39 Abs. 1 KVG geltenden) Spitaltarif gemäss Art. 49 Abs. 1 und 2 KVG, solange der Patient oder die Patientin nach medizinischer Indikation der Behandlung und Pflege oder der medizinischen Rehabilitation im Spital bedarf. Ist diese Voraussetzung nicht mehr erfüllt, so kommt für den Spitalaufenthalt der Tarif nach Art. 50 KVG zur Anwendung. Gemäss dieser Bestimmung vergütet der Versicherer beim Aufenthalt in einem Pflegeheim (vgl. Art. 39 Abs. 3 KVG) die gleichen Leistungen wie bei ambulanter Krankenpflege und bei Krankenpflege zu Hause (vgl. BGE 124 V 364 E. 1a).


b) Im Entscheid 124 V 362 ff. wies das Eidgenössische Versicherungsgericht (EVG) darauf hin, dass der Grundsatz von Art. 49 Abs. 3 KVG der Rechtsprechung entspricht, wie sie im Rahmen des Wirtschaftlichkeitsgebotes von Art. 23 des bis Ende 1995 geltenden Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KUVG) vom 13. Juni 1911 entwickelt worden ist. Danach hat die an sich spitalbedürftige versicherte Person diejenige Heilanstalt oder Spitalabteilung zu wählen, in die sie vom medizinischen Standpunkt aus gehört. So hat die Kasse aus der Grundversicherung nicht für Mehrkosten aufzukommen, die sich daraus ergeben, dass sich die versicherte Person in eine für intensive Pflege und Behandlung spezialisierte und damit teure Klinik begibt, obwohl sie einer solchen Behandlung nicht bedarf und genauso gut in einer einfacher eingerichteten und daher weniger kostspieligen Heilanstalt sachgerecht hätte behandelt werden können. Ebenso hat die spitalbedürftige versicherte Person nicht mehr als die gesetzlichen bzw. statutarischen Leistungen zugute, wenn sie gezwungenermassen in einer teuren Klinik hospitalisiert werden muss, weil in der Heilanstalt oder in der Spitalabteilung, die vom medizinischen Standpunkt aus genügen würde und billiger wäre, kein Bett frei ist. Ferner hat die Kasse nicht dafür aufzukommen, wenn eine versicherte Person trotz nicht mehr bestehender Spitalbedürftigkeit weiterhin in einer Heilanstalt untergebracht ist, weil z.B. kein Platz in einem geeigneten und für die versicherte Person genügenden Pflegeheim (ohne Spitalcharakter) vorhanden ist und mithin der Spitalaufenthalt nur noch auf sozialen Überlegungen beruht (vgl. BGE 124 V 364 f. E. 1b mit Hinweisen).


c) Das auch im neuen KVG anwendbare Kriterium der Wirtschaftlichkeit verlangt weiterhin, dass ein Aufenthalt im Akutspital zum Spitaltarif nur so lange durchgeführt werden darf, als vom Behandlungszweck her ein Aufenthalt im Akutspital notwendig ist (vgl. Urteil des EVG K. vom 16. Januar 2004 [K 109/02]; BGE 124 V 365 E. 1b; Thomas Locher, Grundriss des Sozialversicherungsrechts, 2. Auflage, Bern 1997, S. 165 N 28). Gleichzeitig bewahrt laut EVG die unter der Herrschaft des KUVG ergangene Rechtsprechung, wonach für den Übertritt vom Akutspital in ein Pflegeheim oder eine Pflegeabteilung eine angemessene Anpassungszeit einzuräumen ist, weiterhin Gültigkeit (vgl. BGE 124 V 367 E. 2c mit Hinweisen). In BGE 126 V 339 E. 2c wird festgehalten, dass Versicherte, die trotz der ihnen gebotenen Pflege nicht mehr zu Hause bleiben können, keinen Anspruch auf die in Art. 49 Abs. 3 KVG für den Fall eines Spitalaufenthaltes vorgesehenen Leistungen haben, solange die in einem Pflegeheim gewährte Pflege ihren Bedürfnissen entspricht (vgl. auch BGE 125 V 177 ff.).


4.a) Um die Frage der notwendigen Dauer eines Spitalaufenthaltes zuverlässig beurteilen zu können, ist die rechtsanwendende Behörde - der Krankenversicherer und im Streitfall das Gericht - auf Unterlagen angewiesen, die vorab von Ärztinnen und Ärzten zur Verfügung zu stellen sind. Aufgabe dieser Fachpersonen ist es insbesondere, zur Frage Stellung zu nehmen, ob und wie lange der Aufenthalt bzw. die Pflege und die Betreuung im Spital in einem konkreten Fall medizinisch indiziert ist oder war. Solche ärztlichen Stellungnahmen sind im Übrigen wie alle Beweise im Sozialversicherungsprozess von der rechtsanwendenden Behörde frei, d.h. ohne Bindung an förmliche Beweisregeln, sowie umfassend und pflichtgemäss zu würdigen (vgl. Fritz Gygi, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Auflage, Bern 1983, S. 278). Für das Beschwerdeverfahren bedeutet dies, dass das Sozialversicherungsgericht alle Beweismittel, unabhängig, von wem sie stammen, objektiv zu prüfen und danach zu entscheiden hat, ob die verfügbaren Unterlagen eine zuverlässige Beurteilung des strittigen Rechtsanspruches gestatten (vgl. BGE 125 V 352 E. 3a, 122 V 160 E. 1c).


b) Dem Bericht von Dr. med. H., KPK, vom 5. Januar 2005 zufolge besteht bei der Versicherten wie auch in diversen vorangehenden Arztberichten beschrieben ein akutes psychiatrisches Krankheitsbild. Die Versicherte leide an einer schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen. Im März 2004 habe sie bei zunehmendem wahnhaftem Erleben, einer gleichzeitigen Weglauftendenz und damit auftretender Selbstgefährdung gegen ihren Willen auf eine geschlossene gerontopsychiatrische Abteilung verlegt werden müssen. Bislang habe sich im Rahmen dieser affektiven Störung ein wechselhafter und schleppender Verlauf gezeigt. Es fänden sich zwar Chronifizierungstendenzen. Es könne jedoch nicht von einer chronischen Erkrankung ausgegangen werden, die nicht mehr besserungsfähig sei. Die Einschätzung des Vertrauensarztes der A. könne nicht auf das psychische Erkrankungsbild der Patientin übertragen werden, da sich Stabilisierungstendenzen abzeichnen und andererseits immer wieder Akutsituationen auftreten würden, aufgrund derer eine stationäre psychiatrische Behandlung notwendig sei. Aufgrund der Schwere des Krankheitsbildes und der Notwendigkeit einer intensiven psychiatrischen Behandlung sowie der Bezugspflege durch psychiatrisch geschultes Personal sei eine Betreuung in einem Alters- und Pflegeheim derzeit nicht möglich.


5. Aus dem obgenannten Bericht, der die Entwicklung im Jahr 2004 aufzeigt, und gleichermassen aus den vorangegangenen Berichten der behandelnden Ärztin der KPK (vgl. Berichte der KPK vom 8. Januar 2004, 2. und 31. März 2004) ergibt sich, dass die Beschwerdeführerin während des ganzen Jahres dauernder und intensiver Betreuung durch spezifisch geschultes Personal bedurfte. Entgegen der dem Urteil des EVG A. vom 14. April 2005 [K 157/04] zugrunde liegenden Konstellation ist die Krankengeschichte der Versicherten durch eine wiederkehrende und schubweise Verschlimmerung ihres psychischen Zustands gekennzeichnet, deren Intensität vorliegend nur im Rahmen der KPK adäquat begegnet werden kann und zumindest vorübergehend immer wieder zu einer Akutspitalbedürftigkeit führt. Eine chronische Krankheit muss daher verneint werden. Dr. med. H. weist in ihren Berichten nachvollziehbar darauf hin, dass eine adäquate Behandlung und Betreuung in einem Alters- und Pflegeheim nicht gewährleistet werden kann, weil dort das notwendige Personal weitgehend fehlt. Auf die Berichte des Vertrauensarztes der A. (vgl. die Berichte von Dr. med. P. unter anderem vom 8. Juni 2004, 13. April 2004 und 22. März 2004) kann anderseits nicht abgestellt werden. Dr. med. P. hat die Beschwerdeführerin den Akten zufolge offensichtlich nie persönlich untersucht, sondern stützt seine Beurteilung einzig auf die vorliegende Aktenlage, die ihrerseits (vgl. oben, Ziffer 4b) aber einen anderen Schluss nahelegt. Die Spitalbedürftigkeit ist auf alle Fälle dann zu bejahen, wenn die betroffene Person nach medizinischer Indikation der Betreuung und Pflege in einem Akutspital bedarf und - mit anderen Worten - ein Pflegeheim den medizinischen Anforderungen nicht zu genügen vermag (vgl. ebenso Eugster, a.a.O., S. 70 f. N 136 und Fn. 296). Eine solche Konstellation ist nach den klaren und schlüssigen Ausführungen der behandelnden Ärztin der KPK im vorliegenden Fall gegeben. Es ist demzufolge davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin während des ganzen Jahres 2004 spitalbedürftig war.


6. Die Krankenkasse hat für die Akutspitaltaxe aufzukommen, wenn die Pflege nach medizinischer Indikation nur in einem Spital erbracht werden kann. Dieser Zustand war den massgebenden medizinischen Unterlagen zufolge in jedem Fall bis zum Zeitpunkt des Einspracheentscheids gegeben, weshalb es nicht angeht, dass die Krankenkasse die Zeit von Mai bis Dezember 2004 als Übergangszeit ansieht, in der sich die Versicherte im Hinblick auf den Austritt aus der Spitalpflege neu organisieren und den Übertritt in eine Pflegeinstitution vorbereiten muss. Solange die Chronifizierungstendenzen der Versicherten durch eine wiederkehrende und schubweise Verschlimmerung ihrer Verfassung unterbrochen werden, ist und bleibt die Beschwerdeführerin spitalbedürftig, weshalb bis dahin keine einzuräumende Anpassungszeit für den Übertritt in ein Pflegeheim oder eine Pflegeabteilung angeordnet werden darf. Soweit darauf eingetreten werden kann, ist die Beschwerde deshalb in dem Sinne gutzuheissen und der angefochtene Einspracheentscheid aufzuheben, als die Zeit von Mai bis Dezember 2004 nicht als Übergangsfrist für die Suche nach einem adäquaten Pflegeplatz qualifiziert werden kann.


7. (…)


KGE SV vom 13. April 2005 i.S. B. (730 05 8)



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