Strafrecht - Abgrenzung bewusste Fahrlässigkeit und Eventualvorsatz

Für den Nachweis des Vorsatzes kann sich der Richter regelmässig nur auf äusserlich feststellbare Indizien und Erfahrungsregeln stützen, die ihm Rückschlüsse von den äusseren Umständen auf die innere Einstellung des Täters erlauben. Zu den äusseren Umständen zählt die Rechtsprechung unter anderem die Grösse des dem Täter bekannten Risikos der Tatbestandsverwirklichung, die Schwere der Sorgfaltspflichtverletzung, die Beweggründe des Täters und die Art der Tathandlung. Der Richter darf vom Wissen des Täters auf den Willen schliessen, wenn sich dem Täter die Verwirklichung der Gefahr als so wahrscheinlich aufdrängte, dass die Bereitschaft, sie als Folge hinzunehmen, vernünftigerweise nur als Inkaufnahme des Erfolges ausgelegt werden kann (Art. 18 Abs. 2 StGB; E. 4.2).


Man wird einem Autofahrer bei einer riskanten Fahrweise, bei welcher er selbst zum Opfer zu werden droht, auch wenn ihm die möglichen Folgen bewusst sind, in der Regel zugestehen, dass er leichtfertig darauf vertrauen wird, es werde schon nicht zu einem Unfall kommen. Die Annahme, der Fahrzeuglenker habe sich gegen das Rechtsgut entschieden und nicht mehr im Sinne der bewussten Fahrlässigkeit auf einen guten Ausgang vertraut, darf daher nicht leichthin getroffen werden. Auch wer leichtfertig oder gar "frivol auf Nichteintritt selbst eines für wahrscheinlich gehaltenen Erfolges vertraut", handelt nicht mit Eventualvorsatz, sondern bewusst fahrlässig.



Sachverhalt

Der Sachverhalt der Unfallfahrt im Fall 2 wird vom Angeklagten im Wesentlichen zugestanden. So hat er nicht bestritten, am frühen Morgen des 14. Juli 2002 gegen 4.20 Uhr auf der Delsbergstrasse in Liesberg anstelle der zulässigen Geschwindigkeit von 60 km/h mit etwa 95 km/h in eine Rechtskurve gefahren zu sein, die Herrschaft über das Auto verloren zu haben, auf die Gegenfahrbahn geraten und mit einem korrekt entgegenkommenden Personenwagen frontal zusammen gestossen zu sein. Der Angeklagte bestreitet jedoch, dass es vor dem Unfall am 14. Juli 2002 auf der Strecke von Delémont nach Laufen ein Rennen zwischen ihm und dem Lenker des Unfallwagens gegeben habe. Nach Würdigung der Aussagen des Angeklagten, der Zeugenaussagen sowie der Tatsache, dass der Abstand zwischen den beiden Fahrzeugen zum Unfallzeitpunkt gross und der Angeklagte somit allein auf der Strecke war, ist davon auszugehen, dass kein Rennen bzw. gegenseitiges Kräftemessen zwischen den beiden Lenkern stattgefunden hat. Demzufolge ist bei der rechtlichen Würdigung davon auszugehen, dass der Angeklagte nicht aufgrund eines Wettrennens zu schnell in die Kurve gefahren ist. Es ist zu Gunsten des Angeklagten von seinen Aussagen auszugehen, wonach er wegen Müdigkeit zu schnell gefahren sei, um schneller zu Hause zu sein sowie aus Blödsinn.


Die Appellation der Staatsanwaltschaft richtet sich einerseits gegen die vorinstanzliche Qualifikation der Tat als fahrlässige Tötung im Fall 2, da ihrer Ansicht nach die Voraussetzungen des Eventualvorsatzes gegeben sind. Andererseits wird auch im Falle der Annahme einer fahrlässigen Tötung eine Gefängnisstrafe von drei Jahren gefordert, weil die erstinstanzlich ausgesprochene Strafe zu mild ausgefallen sei.



Erwägungen

1. - 3. (…)


4. Subjektiver Tatbestand


Während das Strafgericht in Übereinstimmung mit der Verteidigung vom Vorliegen einer bewussten Fahrlässigkeit ausgegangen ist, liegt nach Ansicht der Staatsanwaltschaft im vorliegenden Fall ein Eventualvorsatz vor. Es gilt somit nachfolgend zu prüfen, ob der subjektive Tatbestand der vorsätzlichen Tötung gemäss Art. 111 StGB erfüllt ist.



4.1 Vorsatz


Gemäss Art. 18 Abs. 2 StGB verübt ein Verbrechen oder Vergehen vorsätzlich, wer die Tat mit Wissen und Wollen ausführt. Der Vorsatz erfordert auf der Wissensseite ein aktuelles Wissen um die Tatumstände (für Einzelheiten vgl. Jenny Guido, Basler Kommentar, Strafgesetzbuch I, Art. 18 StGB N. 21; Stratenwerth Günter, Schweizerisches Strafrecht, Allg. Teil I, 2. Aufl., Bern 1996, § 9 N. 71 f.). Bei Delikten, die den Eintritt eines Erfolges erfordern, gehört zur Wissensseite des Vorsatzes eine Vorstellung über den Zusammenhang zwischen dem eigenen Handeln und dem Erfolg. Der Vorsatz bezieht sich nicht nur auf Tatumstände, deren Vorhandensein oder Eintreten der Täter für sicher hält. Er kann sich auch auf solche erstrecken, deren Vorhandensein oder Eintreten er nur für möglich hält (BGE 125 IV 242 E. 3c S. 251; 103 IV 65 E. I.2 S. 67 f.; Jenny, a.a.O., Art. 18 StGB N. 22; Stratenwerth, a.a.O., § 9 N. 73). Neben dem Wissen um die reale Möglichkeit der Tatbestandserfüllung verlangt der Vorsatz auch den Willen, den Tatbestand zu verwirklichen. Der Täter muss sich gegen das rechtlich geschützte Gut entscheiden (Stratenwerth, a.a.O., § 9 N. 58 f.; Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben, Strafgesetzbuch, Kommentar, 26. Aufl., 2001, § 15 N. 80). Dieser Wille ist gegeben, wenn die Verwirklichung des Tatbestandes das eigentliche Handlungsziel des Täters ist oder ihm als eine notwendige Voraussetzung zur Erreichung seines Zieles erscheint. Dasselbe gilt, wenn die Verwirklichung des Tatbestandes für den Täter eine notwendige Nebenfolge darstellt, mag sie ihm auch gleichgültig oder gar unerwünscht sein (Jenny, a.a.O., Art. 18 StGB N. 39 f./42; Stratenwerth, a.a.O., § 9 N. 93 ff.). Neben diesem direkten Vorsatz erfasst Art. 18 Abs. 2 StGB auch den Eventualvorsatz. Hier strebt der Täter den Erfolg nicht an, sondern weiss lediglich, dass dieser möglicherweise mit der willentlich vollzogenen Handlung verbunden ist. Die Rechtsprechung bejaht Eventualvorsatz, wenn der Täter den Eintritt des Erfolgs bzw. die Tatbestandsverwirklichung für möglich hält, aber dennoch handelt, weil er den Erfolg für den Fall seines Eintritts in Kauf nimmt, sich mit ihm abfindet, mag er ihm auch unerwünscht sein (BGE 130 IV 58ff.; BGE 125 IV 242 E. 3c S. 251; 121 IV 249 E. 3a/aa; 119 IV 1 E. 5a, je mit Hinweisen).



4.2 Abgrenzung zwischen Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit


Die Abgrenzung zwischen Eventualvorsatz und bewusster Fahrlässigkeit kann im Einzelfall schwierig sein (vgl. Stratenwerth, a.a.O., § 9 N. 61; Claus Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. I, 3. Aufl., 1997, § 12 N. 27). Sowohl der eventualvorsätzlich als auch der fahrlässig handelnde Täter wissen um die Möglichkeit oder das Risiko der Tatbestandsverwirklichung. Hinsichtlich der Wissensseite stimmen somit beide Erscheinungsformen des subjektiven Tatbestandes überein. Unterschiede bestehen jedoch beim Willensmoment. Der bewusst fahrlässig handelnde Täter vertraut (aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit) darauf, dass der von ihm als möglich vorausgesehene Erfolg nicht eintrete, sich das Risiko der Tatbestandserfüllung mithin nicht verwirklichen werde. Das gilt selbst für den Täter, der sich leichtfertig bzw. frivol (BGE 69 IV 75 E. 5 a.E. S. 80) über die Möglichkeit der Tatbestandserfüllung hinwegsetzt und mit der Einstellung handelt, es werde schon nichts passieren. Demgegenüber nimmt der eventualvorsätzlich handelnde Täter den Eintritt des als möglich erkannten Erfolgs ernst, rechnet mit ihm und findet sich mit ihm ab. Wer den Erfolg derart in Kauf nimmt, "will" ihn im Sinne von Art. 18 Abs. 2 StGB. Nicht erforderlich ist, dass der Täter den Erfolg "billigt" (eingehend BGE 96 IV 99 S. 101; 103 IV 65 E I.2 S. 68; Stratenwerth, a.a.O., § 9 N. 104).


Für den Nachweis des Vorsatzes kann sich der Richter - soweit der Täter nicht geständig ist - regelmässig nur auf äusserlich feststellbare Indizien und auf Erfahrungsregeln stützen, die ihm Rückschlüsse von den äusseren Umständen auf die innere Einstellung des Täters erlauben. Nach der Rechtsprechung darf er vom Wissen des Täters auf den Willen schliessen, wenn sich dem Täter die Verwirklichung der Gefahr als so wahrscheinlich aufdrängte, dass die Bereitschaft, sie als Folge hinzunehmen, vernünftigerweise nur als Inkaufnahme des Erfolges ausgelegt werden kann (BGE 109 IV 140 mit Hinweisen; so schon BGE 69 IV 75 E. 5 S. 80; Jenny, a.a.O., Art. 18 StGB N. 48/53; Stratenwerth, a.a.O., § 9 N. 61/101 ff.). Zu den äusseren Umständen, aus denen der Schluss gezogen werden kann, der Täter habe die Tatbestandsverwirklichung in Kauf genommen, zählt die Rechtsprechung unter anderem die Grösse des dem Täter bekannten Risikos der Tatbestandsverwirklichung und die Schwere der Sorgfaltspflichtverletzung. Je grösser die Wahrscheinlichkeit der Tatbestandsverwirklichung ist und je schwerer die Sorgfaltspflichtverletzung wiegt, desto näher liegt die tatsächliche Schlussfolgerung, der Täter habe die Tatbestandsverwirklichung in Kauf genommen (BGE 125 IV 242 E. 3c S. 252; 119 IV 1 E. 5a). Zu den relevanten Umständen können aber auch die Beweggründe des Täters und die Art der Tathandlung gehören (BGE 125 IV 242 E. 3c S. 252 mit Hinweisen). Der Schluss, der Täter habe die Tatbestandsverwirklichung in Kauf genommen, darf aber jedenfalls nicht allein aus der Tatsache gezogen werden, dass sich dieser des Risikos der Tatbestandsverwirklichung bewusst war und dennoch handelte. Denn dieses Wissen um das Risiko der Tatbestandsverwirklichung wird - wie ausgeführt - auch bei der bewussten Fahrlässigkeit vorausgesetzt. Zwar trifft zu, dass ein Fahrzeuglenker durch sein gewagtes Fahrverhalten selbst zum Opfer zu werden droht. Man wird daher einem Autofahrer bei einer riskanten Fahrweise, z.B. bei einem waghalsigen Überholmanöver, auch wenn ihm die möglichen Folgen bewusst sind und er auf sie gar ausdrücklich hingewiesen worden ist, in der Regel zugestehen, dass er - wenn auch oftmals rational nicht begründbar - leichtfertig darauf vertrauen wird, es werde schon nicht zu einem Unfall kommen. Die Annahme, der Fahrzeuglenker habe sich gegen das Rechtsgut entschieden und nicht mehr im Sinne der bewussten Fahrlässigkeit auf einen guten Ausgang vertraut, darf daher nicht leichthin getroffen werden (BGE 130 IV 58ff. mit Verweis auf Roxin, a.a.O., § 12 N. 23; Schönke/Schröder/Cramer/Sternberg-Lieben, a.a.O., § 15 N. 75). Auch wer den Erfolg als möglich ansieht, kann sich innerlich darauf verlassen, dass schon nichts passieren werde, und wer sich so verhält, wer leichtfertig oder gar "frivol auf Nichteintritt selbst eines für wahrscheinlich gehaltenen Erfolges vertraut, handelt nicht mit Eventualvorsatz". Hier bleibt es bei bewusster Fahrlässigkeit (Stratenwerth Günter, Schweizerisches Strafrecht AT I, 2. Auflage, § 9 N 104 mit weiteren Hinweisen).



4.3 Konkrete Würdigung hinsichtlich der Wissensseite


Nicht zu beanstanden ist zunächst, dass die Vorinstanz das Wissenselement des Vorsatzes im vorliegenden Fall als erfüllt erachtet. Der Angeklagte ist um ca. 4.20 Uhr morgens, nach einer langen Disconacht und einer längeren Fahrt, auf einer ihm als Lenker unbekannten Strecke und feuchter Fahrbahn in einer 60 km/h-Zone mit einer Geschwindigkeit von etwa 95 km/h in eine Kurve gefahren. Dies, obwohl er erst seit etwa vier Monaten im Besitz des Führerausweises war und somit wenig Fahrpraxis hatte, längere Fahrten nicht gewohnt und überdies müde war (act. 537). Zudem hatte er Mitfahrer im Auto, wobei das spätere Todesopfer auf dem Rücksitz nicht angegurtet war, was dem Lenker wiederum bekannt war. Unter diesen Umständen musste er, als er mit einer Geschwindigkeit von rund 95 km/h in die Rechtskurve fuhr, damit rechnen, die Herrschaft über den Wagen zu verlieren. Es ist nahe liegend anzunehmen, dass die möglichen Folgen einer derart halsbrecherischen Fahrweise jedem Verkehrsteilnehmer klar vor Augen stehen. Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass das Fahrzeug des Angeklagten wenige Minuten zuvor in einer Kurve bei Riederwald wegen übersetzter Geschwindigkeit bereits einmal ins Schleudern geraten war. Der Angeklagte musste ferner davon ausgehen, dass sich auch an diesem Ort und zu dieser Zeit noch andere Verkehrsteilnehmer auf der Strasse befinden könnten. Die tödlichen Folgen seiner Raserfahrt musste der Angeklagte zumindest für möglich halten. Dies wird im Grunde vom Angeklagten auch nicht bestritten. Der Angeklagte wusste somit um die Lebensgefährdung, welche seine sorgfaltswidrige Fahrweise zur Folge hatte.



4.4. Konkrete Würdigung hinsichtlich der Willensseite


4.4.1 Vorbemerkung


Die Unterscheidung zwischen bewusster Fahrlässigkeit und Eventualvorsatz liegt - wie bereits erwähnt - im Bereich der Willensseite, weshalb nachfolgend zu ermitteln ist, ob der Angeklagte seinen Tod sowie denjenigen seiner Mitfahrer oder anderer Verkehrsteilnehmer in Kauf genommen hat. Der Angeklagte hat ausgesagt, er habe auf keinen Fall das Gefühl gehabt, dass er das Leben seiner Mitfahrer oder anderer Verkehrsteilnehmer gefährde. Es habe ihm auch nie jemand gesagt, er habe Angst oder habe sich über seinen Fahrstil beklagt. Er habe nie gewollt, dass es so komme und habe nie jemanden bewusst einer Gefahr aussetzen wollen (act. 657). Wie bereits ausgeführt, handelt es sich beim Willen des Täters um eine innere Tatsache, auf welche nur aufgrund äusserer Umstände geschlossen werden kann. Es gilt somit, nachfolgend die äusseren Umstände der Tat dahingehend zu würdigen, ob sich daraus Schlüsse auf den Willen des Täters zur Tatzeit ergeben.



4.4.2 Relevante Umstände


Wie bereits zuvor erwähnt, erachtet das Kantonsgericht die in der Anklageschrift geschilderte "Vorgeschichte" (Fall 1; Vorfall am Vorabend; Schleudern bei Riederwald; vorgängiges Rennen), selbst wenn sie sachverhaltsmässig erstellt wäre, für die Beurteilung des Willens des Angeklagten zum Unfallzeitpunkt als irrelevant. Der Unfall im Fall 1 sowie das Schleudern in der Kurve bei Riederwald lassen allenfalls auf die generelle Risikobereitschaft des Angeklagten schliessen, nicht jedoch auf die Willensseite des Täters zur Tatzeit. Die Staatsanwaltschaft zieht die "Vorgeschichte" als Beweis zur Begründung eines dem Unfall vorangegangenen oder sogar noch andauernden Wettrennens bei, doch wären allfällig erwiesene frühere Renn- oder Raserfahrten bei der Ermittlung der Willensrichtung des Angeklagten zum Tatzeitpunkt nicht entscheidend. Wesentlich sind einzig die Umstände kurz vor oder während der Tat.



4.4.3 Konkrete Würdigung der Umstände


Als relevante äussere Umstände nennt die Rechtsprechung die Grösse des dem Täter bekannten Risikos der Tatbestandsverwirklichung und die Schwere der Sorgfaltspflichtverletzung. Zu den relevanten Umständen können aber auch die Beweggründe des Täters und die Art der Tathandlung gehören. Nachfolgend sind diese Umstände im vorliegenden Fall zu prüfen.



a) Risiko der Tatbestandsverwirklichung


Zunächst gilt es anhand der konkreten Umstände zur Tatzeit zu beurteilen, wie hoch das Risiko war, dass die Mitfahrer sowie ein anderer Verkehrsteilnehmer durch seine Sorgfaltspflichtverletzung getötet würden. Das Risiko, die Herrschaft über das Auto zu verlieren, wenn man mit 95 km/h anstelle der erlaubten 60 km/h in eine Rechtskurve fährt, ist generell sehr gross. Im vorliegenden Fall hat der Experte dies in der Unfallkurve nachträglich mit Fahrversuchen getestet. Die Fahrweise, mit 80 km/h in die Kurve zu fahren, nannte er bereits "sportlich" und bei einer Geschwindigkeit von 92 km/h hat er die Testfahrt als zu riskant empfunden und beendet (vgl. Prot. act. 961, 967). Auch das Risiko, bei übersetzter Geschwindigkeit in einer Kurve auf die Gegenfahrbahn zu gelangen, ist erheblich. Die konkrete Gefahr, am Unfallort und zum Unfallzeitpunkt, auf der Gegenfahrbahn mit einem entgegenkommenden Auto zu kollidieren, ist hingegen nicht als sehr gross einzuschätzen, da es zur Tatzeit, nämlich um 4.20 h morgens, auf der abgelegenen Unfallstrecke wenig Gegenverkehr hatte, obwohl natürlich grundsätzlich immer mit Gegenverkehr gerechnet werden muss. Der Angeklagte hat ausgesagt, dass ihm auf dem ganzen Weg nur ein oder zwei Fahrzeuge entgegen gekommen seien (act. 543). Dies bestätigte auch V.V., die im Unfallauto sass (act. 565: "Es hatte sehr wenig Verkehr, d.h. es kamen uns praktisch keine Autos entgegen").


Im Vergleich zum Sachverhalt, der dem im vorliegenden Verfahren vielfach zitierten Bundesgerichtsentscheid BGE 130 IV 58ff. ("Fall Gelfingen") zugrunde lag, ist hier von ganz anderen Verhältnissen auszugehen. In jenem Fall sind zwei Autos bei einem Autorennen in einer Sommernacht um 22.30 Uhr eng hintereinander bzw. teilweise nebeneinander mit einer Geschwindigkeit von rund 120-140 km/h in das Dorf Gelfingen gerast. Bei einem derartigen Handeln drängt sich die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts als derart gross auf, dass die Tat nur als Inkaufnahme des als möglich erkannten Erfolgs ausgelegt werden kann. Die Lenker konnten deshalb nicht darauf vertrauen, dass schon nichts passieren wird. Die blosse Hoffnung auf das Ausbleiben des tatbestandsmässigen Erfolges schliesst dessen Inkaufnahme im Sinne eventualvorsätzlicher Tatbegehung nicht aus (vgl. BGE 130 IV 58ff.). Wie aber schon das Strafgericht in der Urteilsbegründung ausführt, sind die Tatumstände im vorliegenden Fall nicht vergleichbar, insbesondere nicht derart, dass sich eine Verwirklichung des Risikos geradezu zwingend aufdrängte, mit der Folge, dass der Täter nicht mehr auf ein Ausbleiben des tatbestandsmässigen Erfolges hat vertrauen können. Im Gegensatz zum Sachverhalt im "Fall Gelfingen" kann aufgrund der Fahrweise und der Tatzeit im vorliegenden Fall nicht darauf geschlossen werden, dass dem Angeklagten die als möglich erkannte Folge - nämlich der Tod einer oder mehrerer Personen - völlig gleichgültig war. Seine Fahrweise war zwar sehr riskant und verantwortungslos, doch ergeben sich aus dem Sachverhalt keine genügenden Anhaltspunkte für einen zwingenden Schluss auf eine Entscheidung des Täters für die mögliche Rechtsgutverletzung, zumal er durch sein gewagtes Fahrverhalten selbst zum Opfer zu werden drohte. Gemäss bereits zitierter bundesgerichtlicher Praxis wird man einem Autofahrer bei einer riskanten Fahrweise, auch wenn ihm die möglichen Folgen bewusst sind, in der Regel zugestehen, dass er - wenn auch oftmals rational nicht begründbar - leichtfertig darauf vertrauen wird, es werde schon nicht zu einem Unfall kommen. Die Annahme, der Fahrzeuglenker habe sich gegen das Rechtsgut des Lebens entschieden und nicht mehr im Sinne der bewussten Fahrlässigkeit auf einen guten Ausgang vertraut, darf daher nicht leichthin getroffen werden (BGE 130 IV 58ff.). Nach Ansicht des Kantonsgerichts war das Risiko der Tötung eines Menschen im vorliegenden Fall zwar gross, doch drängte sie sich nicht derart auf, dass das Verhalten des Täters nur noch als Einverständnis oder Gleichgültigkeit hinsichtlich der drohenden Rechtsgutverletzung ausgelegt werden kann.



b) Schwere der Sorgfaltspflichtverletzung


Die pflichtgemässe Vorsicht bestimmt sich in erster Linie nach den Umständen, z.B. nach Art, Zweck und Notwendigkeit der geplanten Handlung, den mit ihr verbundenen Risiken sowie den zur Verfügung stehenden und zumutbaren Handlungsmitteln. Man spricht in diesem Zusammenhang von genereller oder objektiver Sorgfaltspflicht. Steht fest, dass der Täter effektiv eine bestehende Sorgfaltspflicht verletzt hat, ist danach zu fragen, was ein gewissenhafter und besonnener Mensch mit der Ausbildung und den individuellen Fähigkeiten des Angeschuldigten in der fraglichen Situation getan oder unterlassen hätte. Bei der individuellen oder subjektiven Sorgfaltspflicht wird die Frage der Vorwerfbarkeit unter Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse des Täters behandelt (Maier/Schöning; in: ZStrR 2000, S. 285).


Der Angeklagte war erst wenige Monate im Besitz des Führerausweises und hatte zum Zeitpunkt des Unfalls wenig Fahrpraxis. Ausserdem kannte er nach eigenen Angaben die Strecke nicht und ist bis dahin selbst noch nie so lange am Stück gefahren. Ferner gibt er an, müde gewesen zu sein, weshalb er schnell gefahren sei, um möglichst schnell zu Hause zu sein. Auch die anderen Mitfahrer hätten kaum geredet oder geschlafen (act. 537f.). Darüber hinaus hatte er Kenntnis davon, dass die Beifahrerin auf dem Rücksitz nicht angegurtet war (act. 543). Aufgrund dieser Umstände wäre der Lenker zu besonderer Sorgfalt verpflichtet gewesen. Stattdessen hat er sich zu einer Fahrweise hinreissen lassen, die unter den gegebenen Umständen nur als leichtsinnig und verantwortungslos bezeichnet werden kann. Aufgrund der fehlenden Fahrpraxis hat der Angeklagte die Gefahren seiner Raserfahrt zwar möglicherweise massiv unterschätzt oder seine Fahrfähigkeit masslos überschätzt, doch ändert dies nichts daran, dass ihm eine schwere Sorgfaltspflichtverletzung vorzuwerfen ist.



c) Beweggründe und Art der Tathandlung


Die Beweggründe und die Art der Tathandlung können ebenfalls Hinweise auf den Willen des Täters geben. Die Staatsanwaltschaft geht in ihrer Appellation davon aus, dass der Angeklagte sich mit dem anderen Fahrzeuglenker ein Rennen geliefert hat, weshalb er zu schnell in die Kurve gefahren ist und den folgenschweren Unfall verursacht hat. Nach Ansicht des Kantonsgerichts spielte sich zum Unfallzeitpunkt kein Wettrennen mit einem anderen Fahrzeug ab, sondern es ist von der Aussage des Angeklagten auszugehen, wonach er aus Unbesonnenheit bzw. Leichtfertigkeit zu schnell gefahren sei. Dies gilt selbst dann, wenn - was nicht erstellt ist - zu einem früheren Zeitpunkt - dem zweimaligen Überholen des Unfallwagens - ein gegenseitiges Kräftemessen der beiden Fahrzeugführer stattgefunden haben sollte. Demgegenüber lagen im "Fall Gelfingen" völlig andere Tatumstände vor, da sich das Tatereignis während eines Rennens realisierte, in einer Situation also, in der Lenker das Ziel, die fahrerische Überlegenheit zu beweisen und um keinen Preis das Gesicht zu verlieren, höher gewertet hat als die drohenden Folgen. Der Umstand, dass im vorliegenden Fall der Abstand des Autos des Angeklagten und des darauf folgenden Autos zum Unfallzeitpunkt einige Fahrminuten betragen hat, der vorausgegangene Geschehensablauf sowie die Aussagen der jeweiligen Mitinsassen der Fahrzeuge, wonach diese keine Angst gehabt oder gar geschlafen hätten, verbieten eine Gleichsetzung mit den Umständen im "Fall Gelfingen". In diesem Sinne führt auch die Vorinstanz in der Urteilsbegründung zu Recht aus, dass die beiden Fälle von ihrer Dynamik her nicht vergleichbar seien.



d) Würdigung


Es ist vorweg zu unterstreichen, dass unter Berücksichtigung der notorischen Unsicherheiten bei der Abgrenzung des Eventualvorsatzes zur bewussten Fahrlässigkeit die Regel "in dubio pro reo" erhöht in Anspruch zu nehmen ist. Das Risiko der Tatbestandsverwirklichung war im vorliegenden Fall zwar hoch und die Sorgfaltspflichtverletzung schwer, doch drängte sich dem Angeklagten die Verwirklichung der Lebensgefahr für die Mitfahrer und andere Verkehrsteilnehmer nicht als so wahrscheinlich auf, dass die Bereitschaft, sie als Folge hinzunehmen, vernünftigerweise nur als deren Inkaufnahme ausgelegt werden kann. Ein entsprechender für den Eventualvorsatz erforderliche Wille ist den vorliegenden äusseren Umständen nicht zu entnehmen, weshalb im Zweifel davon auszugehen ist, dass der Angeklagte leichtfertig darauf vertraut hat, dass kein Unfall passieren wird. Die Grenze zum Eventualvorsatz ist somit nicht überschritten, weshalb der Angeklagte in Abweisung der Appellation der Staatsanwaltschaft wegen bewusster fahrlässiger Tötung sowie mehrfacher fahrlässiger schwerer Körperverletzung zu verurteilen ist.


(…)



KGE ZS vom 3. Januar 2006 i.S. Staatsanwaltschaft/E.K./M.V. gegen A.C. (100 05 396/AFS)



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