Kinderzulagen - Rückwirkende Geltendmachung von Familienzulagen

Für die nachträgliche und rückwirkende Geltendmachung von Familienzulagen gilt mit dem In-Kraft-Treten des neuen Familienzulagengesetzes per 1. Januar 2006 unmittelbar dessen fünfjähriger Nachforderungsanspruch und nicht die nach altem Recht geltende lediglich zwei Jahre umfassende Nachforderungsmöglichkeit (§ 17 FaZG, E. 2 und 3).



Sachverhalt

H. beantragte mit Gesuch vom 2. Januar 2006 bei der Ausgleichskasse Medisuisse (Kasse) die Ausrichtung von Kinderzulagen. Auf dem Leistungsgesuch vermerkte die Arbeitgeberin von H., dass die Anmeldung vergessen worden sei und sie entsprechend um "grosszügige Beurteilung" bitte. Mit Entscheid vom 12. Januar 2006 sprach die Kasse der Versicherten rückwirkend per 1. Januar 2004 Zulagen zu. In der Folge wandte sich die Arbeitgeberin der Versicherten an die Kasse. Darin führte sie aus, dass im neuen "Familienausgleichskassengesetz" die "Verjährung für die Beantragung von Kinder- und Ausbildungszulagen von 2 auf 5 Jahre" erhöht worden sei. Es wurde deshalb beantragt, den Entscheid hinsichtlich des Anspruchsbeginns nochmals zu überprüfen. Mit Verfügung vom 6. Februar 2006 hielt die Kasse an ihrem Zulagenentscheid fest. Die dagegen von H. und ihrer Arbeitgeberin, beide vertreten durch Advokat B., eingereichte Einsprache wies die Kasse mit Entscheid vom 27. Februar 2006 ab.


Am 22. März 2006 reichten H. und ihre Arbeitgeberin beim Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht (Kantonsgericht), Beschwerde gegen den Einspracheentscheid der Kasse ein und beantragten dessen Aufhebung, insofern darin ein Kinderzulagenanspruch für die Zeit vor dem 1. Januar 2004 verneint werde. Gleichzeitig wurde anbegehrt, die Kasse sei zu verpflichten, die geschuldeten Zulagen zu berechnen und nachzuzahlen. Zur Begründung wurde vorgebracht, dass auf den vorliegenden Sachverhalt ohne weiteres die neuen kantonalen Bestimmungen zur Anwendung gelangten, wonach die in den letzten fünf Jahren vor der Geltendmachung entstandenen Zulagenansprüche nachgefordert werden könnten.


In ihrer Vernehmlassung vom 20. April 2006 hielt die Kasse an ihrem Entscheid fest und beantragte die Abweisung der Beschwerde.



Erwägungen

1. (…)


2. Am 1. Januar 2006 ist das neu geschaffene kantonale Familienzulagengesetz (FaZG) vom 9. Juni 2005 in Kraft getreten, mit welchem das bisherige Kinderzulagengesetz (KZG) vom 5. Juni 1978 ersetzt wurde. Als wesentliche verfahrensrechtliche Änderung wurde mit § 39 FaZG das Einspracheverfahren eingeführt. Danach sind die von den Familienausgleichskassen erlassenen Verfügungen nicht mehr direkt mittels Beschwerde an das Kantonsgericht anfechtbar, sondern es ist vorgängig das verwaltungsinterne Einspracheverfahren durchzuführen. Damit wurde das kantonale Kinderzulagenrecht an die verfahrensrechtlichen Grundsätze des Bundessozialversicherungsrechts angepasst, für welches mit der In-Kraft-Setzung des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 mit Wirkung ab 1. Januar 2003 das allgemeine Einspracheverfahren eingeführt wurde.


Im Zusammenhang mit der Einführung des ATSG hat das Eidgenössische Versicherungsgericht (EVG) ausgeführt, dass neue Verfahrensvorschriften mangels anders lautender Übergangsbestimmungen mit dem Tag des In-Kraft-Tretens sofort und in vollem Umfang anwendbar sind (BGE 130 V 4 E. 3.2 mit Hinweis). Das FaZG enthält keine Übergangsbestimmungen zur Frage der Anwendbarkeit der neuen Verfahrensvorschriften. Vorliegend datiert die angefochtene Verfügung der Kasse vom 6. Februar 2006 und wurde somit nach In-Kraft-Treten des FaZG erlassen, womit - analog zum Bundesrecht - auch die neuen verfahrensrechtlichen Bestimmungen des FaZG anzuwenden und demgemäss das Einspracheverfahren durchzuführen ist. Folgerichtig hat der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerinnen - entgegen der der Verfügung beigefügten Rechtsmittelbelehrung - zunächst Einsprache bei der Kasse erhoben.


3. Über den grundsätzlichen Anspruch auf Familienzulagen besteht vorliegend Einigkeit. Umstritten ist hingegen, über welchen Zeitraum dieser Anspruch rückwirkend geltend gemacht werden kann. Während die Kasse sich auf den Standpunkt stellt, auf den strittigen Sachverhalt sei die zweijährige Frist von § 10 KZG anwendbar, vertritt die Versicherte die Ansicht, es komme bereits § 17 FaZG zur Anwendung, gemäss welchem fünf Jahre zurückliegende Ansprüche nachgefordert werden könnten. Es ist im Folgenden somit zu prüfen, welche der beiden vorgenannten Bestimmungen zur Anwendung gelangen soll.


3.1 Zunächst ist festzustellen, dass das FaZG keinerlei Übergangsbestimmungen zu den Nachforderungsfristen nicht bezogener Zulagen enthält. Es fragt sich demnach, nach welchen Grundsätzen bezüglich des anwendbaren (materiellen) Rechts zu verfahren ist. Einem allgemeinen intertemporalrechtlichen Prinzip folgend sind grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend, die bei Verwirklichung des zu Rechtsfolgen führenden Sachverhalts galten (BGE 130 V 445). Es stellt sich somit die Frage, welches der die Anwendung des materiellen Rechts steuernde Sachverhalt ist. Laut § 17 FaZG ist die Nachforderung "auf die letzten 5 Jahre vor der Geltendmachung des Anspruchs beschränkt". Die ebenfalls die Nachforderung betreffende Bestimmung von § 10 Abs. 2 des bis 31. Dezember 2005 in Kraft gestandenen KZG war in exakt demselben Wortlaut gehalten; einzig mit der Abweichung, dass die Nachforderungsfrist auf zwei Jahre beschränkt war. Laut dem übereinstimmenden und klaren Wortlaut der beiden vorstehend zitierten Bestimmungen wird durch die Geltendmachung des Anspruchs die Rechtsfolge sprich die Nachforderung ausgelöst. Jener Sachverhalt, der schliesslich die zeitlichen Modalitäten der Nachforderung steuert ist somit eindeutig der Zeitpunkt der Geltendmachung des Anspruchs. Für die Frage des anwendbaren Rechts kann dies nur bedeuten, dass jene Nachforderungsregel zur Anwendung gelangt, welche im Zeitpunkt der Geltendmachung des Anspruchs in Kraft stand. Nachdem die Versicherte ihren Nachforderungsanspruch im Januar 2006 geltend gemacht hat, kommt demnach ohne weiteres § 17 Abs. 2 FaZG zur Anwendung und es besteht ein fünfjähriger Nachforderungsanspruch.


3.2 Dieses Ergebnis stimmt auch ohne weiteres in Einklang mit dem Willen des Gesetzgebers. So lässt sich den Materialen zum neuen FaZG entnehmen, dass der kantonale Gesetzgeber bezüglich der Nachforderungsfrist nicht bezogener Familienzulagen eine Harmonisierung mit dem generellen - in Art. 24 ATSG geregelten - fünfjährigen Nachforderungsanspruch beabsichtigt hat (vgl. Ziff. 3.2.1 lit. h der Vorlage des basellandschaftlichen Regierungsrates betreffend das Familienzulagengesetz an den Landrat vom 21. Dezember 2004; Bericht Nr. 2004-332 der Volkswirtschafts- und Gesundheitskommission an den Landrat vom 9. Mai 2005; Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, Art. 24 Rz. 11 ff.). Im Sinne des Gesetzgebers umgesetzt werden kann eine derartige Harmonisierung letztlich aber nur, wenn die neuen Bestimmungen unmittelbar mit deren In-Kraft-Setzung zur Anwendung gelangen. Diesem klaren gesetzgeberischen Willen würde nun aber gerade nicht entsprochen, wenn - wie die Beschwerdegegnerin dies verlangt - auf alle vor dem 1. Januar 2006 entstandenen monatlichen Leistungsansprüche die zweijährige Nachforderungsfrist des nicht mehr in Kraft stehenden KZG zur Anwendung gelangte. Folgte man der Auffassung der Kasse, käme eine versicherte Person erst ab 1. Januar 2009 in den Genuss des fünfjährigen Nachforderungsanspruchs. Die vom Gesetzgeber eingeführte und grundsätzlich für das gesamte Sozialversicherungsrecht geltende Fünfjahresfrist würde somit erst frühestens drei Jahre nach In-Kraft-Setzen des FaZG wirksam werden. Dies entspricht jedoch wie bereits gesagt nicht dem Willen des Gesetzgebers, welcher eine umgehende Anpassung der kantonalen Nachforderungsfrist an die bundesrechtliche Regelung des ATSG gewollt hat.


3.3 Unter den gegebenen Umständen ist die Beschwerde in Aufhebung des angefochtenen Einsprachentscheides vom 6. März 2006 gutzuheissen. Die Kasse hat somit unter Beachtung der fünfjährigen Nachforderungsfrist gemäss § 17 FaZG über den Familienzulagenanspruch der Beschwerde führenden Versicherten neu zu verfügen.


4. (Kosten)


5. Abschliessend bleibt festzuhalten, dass das Kantonsgericht in der vorliegenden Sache gestützt auf § 40 Abs. 1 FaZG endgültig entscheidet, weshalb gegen dieses Urteil keine ordentlichen Rechtsmittel gegeben sind.



KGE SV vom 5.7.2006 i.S. H. (760 06 077)



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