Strafrecht

Entscheid des Strafgerichts über Zivilansprüche nur dem Grundsatz nach und im Übrigen Verweisung des Opfers ans Zivilgericht


Von Bundesrechts wegen sind unbezifferte Leistungsklagen auf Geldzahlungen unter anderem zulässig, wo der bereits eingetretene Schaden nicht ziffernmässig nachweisbar ist oder wo die Nachteile, die ein Geschädigter voraussichtlich noch erleiden wird, noch nicht bestimmt voraussehbar sind. Dies muss auch für Genugtuungsforderungen gelten, deren Höhe in erster Linie nach Recht und Billigkeit festzulegen ist (E 4.4).


Das Strafgericht kann die Zivilansprüche nur dem Grundsatz nach entscheiden und das Opfer im Übrigen an das Zivilgericht verweisen, wenn die vollständige Beurteilung dieser Ansprüche einen unverhältnismässigen Aufwand erfordern würde. Erst wenn umfangmässig und zeitlich der Aufwand unverhältnismässig wäre, ist eine Verweisung auf den Zivilweg zulässig. Steht lediglich eine Genugtuung zur Diskussion, so kann deren Umfang ohne grossen Aufwand durch das Strafgericht beurteilt werden (Art. 9 Abs. 3 OHG, E. 4.4).


Die Höhe der Genugtuung richtet sich nach der Schwere der erlittenen Verletzung, die nach den besonderen Umständen des Einzelfalles zu beurteilen ist, und wird nach richterlichem Ermessen festgesetzt. Bemessungskriterien sind dabei vor allem die Art und Schwere des Eingriffs, die Intensität und Dauer der Auswirkungen auf die Persönlichkeit des Opfers sowie der Grad des Verschuldens des Schädigers (E. 4.4).



Sachverhalt

Mit Urteil des Strafgerichts des Kantons Basel-Landschaft vom 07.01.2005 wurde der Angeklagte der mehrfachen, teilweise versuchten Vergewaltigung, der mehrfachen, teilweise versuchten sexuellen Nötigung, der mehrfachen, teilweise versuchten sexuellen Handlungen mit einem Kind sowie des mehrfachen Zugänglichmachens von pornographischen Erzeugnissen an eine Person unter 16 Jahren schuldig erklärt und zu einer Zuchthausstrafe von 6 Jahren verurteilt. Die Schadenersatz- und Genugtuungsforderung des Opfers wurde dem Grundsatz nach gutgeheissen und im Übrigen auf den Zivilweg verwiesen.



Erwägungen

4. Zivilforderung


4.1 Der Entscheid des Strafgerichts, die Schadenersatz- und Genugtuungsforderung des Opfers dem Grundsatz nach gutzuheissen, im Übrigen auf den Zivilweg zu verweisen, wird bezüglich der Genugtuungsforderung nicht näher begründet.


4.2 Dieser Entscheid wird, soweit es um die Genugtuungsforderung geht, vom Opfer angefochten. Die Verweisung auf den Zivilweg sei nur ausnahmsweise erlaubt, wenn zur Beurteilung der gestellten Zivilansprüche ein unverhältnismässiger Aufwand betrieben werden müsse. Dies treffe bei Genugtuungsforderungen in der Regel nicht zu. Aufgrund der besonderen familiären Konstellation sei es dem Opfer nicht zuzumuten, die dem Grundsatz nach gutgeheissene Genugtuungsforderung in einem weiteren, zivilrechtlichen Verfahren gegen den Angeklagten beziffern zu lassen. Das Opfer liess beantragen, unter Berücksichtigung der Schwere und Dauer der Übergriffe, des körperlichen Zwangs und der dadurch ausgelösten Gefühle der Ohnmacht und Schwäche, des Missbrauchs der Vertrauensstellung als Götti und Ersatzvater, des Loyalitätskonflikts, der innerfamiliären Folgen dieser Taten sowie der fortdauernden psychischen Belastung des Opfers eine angemessene Genugtuungssumme zu bestimmen. Um sicherzustellen, dass die Genugtuung tatsächlich dem noch unmündigen Opfer zukomme, sei die Vormundschaftsbehörde anzuweisen, die nötigen Massnahmen zum Schutz des Kindsvermögens zu treffen.


4.3 Der Angeklagte macht für den Fall des Eintretens auf die Anschlussappellation des Opfers geltend, dass auch im zweitinstanzlichen Verfahren keinerlei Grundlage bestehe, dem Opfer eine konkrete Genugtuungssumme zuzusprechen. An einer Bezifferung und Substanziierung der Genugtuungsforderung mangle es nach wie vor.


4.4 Die gerichtliche Beurteilung von adhäsionsweise geltend gemachten Zivilansprüchen im Strafverfahren setzt voraus, dass das Opfer entsprechende Rechtsbegehren gestellt hat. Diesbezüglich gilt die Dispositionsmaxime. Von Bundesrechts wegen sind unbezifferte Leistungsklagen auf Geldzahlungen unter anderem zulässig, wo der bereits eingetretene Schaden nicht ziffernmässig nachweisbar ist oder wo die Nachteile, die ein Geschädigter voraussichtlich noch erleiden wird, noch nicht bestimmt voraussehbar sind (vgl. Vogel/Spühler, Grundriss des Zivilprozessrechts, 7. Aufl., Bern 2006, 7. Kap. N 5d). Dies muss auch für Genugtuungsforderungen gelten, deren Höhe in erster Linie nach Recht und Billigkeit festzulegen ist, wobei den Besonderheiten des Einzelfalles entscheidendes Gewicht zukommt (vgl. Berner Kommentar, Brehm, 3. Aufl., Bern 2006, Art. 49 OR N 84a). Die mangelnde Bezifferung der Genugtuungsforderung des Opfers hindert somit die im Strafverfahren angerufenen Gerichte nicht an deren Beurteilung.


Gemäss Art. 9 Abs. 3 OHG kann das Strafgericht die Zivilansprüche nur dem Grundsatz nach entscheiden und das Opfer im Übrigen an das Zivilgericht verweisen, wenn die vollständige Beurteilung dieser Ansprüche einen unverhältnismässigen Aufwand erfordern würde. Erst wenn umfangmässig und zeitlich der Aufwand unverhältnismässig wäre, ist eine Verweisung auf den Zivilweg zulässig. Steht lediglich eine Genugtuung zur Diskussion, so kann deren Umfang ohne grossen Aufwand durch das Strafgericht beurteilt werden; eine Verweisung auf den Zivilweg wäre nicht zu rechtfertigen (vgl. Steiger-Sackmann, a.a.O., Art. 9 OHG N 22 und 23). Hinsichtlich der vom Opfer rechtzeitig erhobenen Genugtuungsforderung (act. S. 889.3 f) liegen die Voraussetzungen für eine Verweisung auf den Zivilweg nicht vor. Sie ist folglich nicht nur dem Grundsatz nach, sondern auch der Höhe nach im Strafverfahren zu beurteilen.


Wer in seiner Persönlichkeit widerrechtlich verletzt wird, hat gemäss Art. 49 Abs. 1 OR Anspruch auf Leistung einer Geldsumme als Genugtuung, sofern die Schwere der Verletzung es rechtfertigt und diese nicht anders wieder gutgemacht werden kann. Da das Opfer durch den Angeklagten sexuell missbraucht, genötigt und vergewaltigt worden ist, liegt eine widerrechtliche Persönlichkeitsverletzung schwerwiegender Art vor. Die Höhe der Genugtuung richtet sich nach der Schwere der erlittenen Verletzung, die nach den besonderen Umständen des Einzelfalles zu beurteilen ist, und wird nach richterlichem Ermessen festgesetzt. Bemessungskriterien sind dabei vor allem die Art und Schwere des Eingriffs, die Intensität und Dauer der Auswirkungen auf die Persönlichkeit des Opfers sowie der Grad des Verschuldens des Schädigers. Bei sexuellem Missbrauch eines Kindes ist folgenden Kriterien besondere Beachtung zu schenken: Alter des Opfers, Abhängigkeitsverhältnis, Missbrauch eines besonderen Vertrauensverhältnisses, Art der Missbrauchshandlungen, Gefühle und Erfahrungen des Opfers. Überdies ist nach den psychischen Folgen zu fragen und danach, ob die Beziehungsfähigkeit des Opfers beeinträchtigt ist (vgl. BGE 6P.92/2002 E. 6.1 mit weiteren Hinweisen). Bei der Bemessung kann sich der Richter an vergleichbaren Fällen orientieren. Da die Höhe der Genugtuung in erster Linie nach Recht und Billigkeit festzulegen ist, kommt den Besonderheiten des Einzelfalles entscheidendes Gewicht zu (vgl. Berner Kommentar, a.a.O., Art. 49 OR N 84a; BGE 6S.667/2001 E. 3.3).


Die zur Bemessung relevanten Umstände sind mit der Eingabe der Prozessbeiständin des Opfers vom 19.09.2003, mit den durch das Strafverfahren gewonnenen Erkenntnissen, mit dem heute mündlich erstatteten Bericht der Vormundschaftsbehörde und dem zu den Akten gegebenen schriftlichen Bericht des Beistandes genügend substanziiert. Eine weitere Detaillierung kann angesichts der Weigerung des Opfers, mit der Prozessbeiständin in Kontakt zu bleiben (act. S. 1037), nicht verlangt werden. Die sexuellen Übergriffe des Angeklagten fanden während beinahe 5 Jahren und teilweise in grosser zeitlicher Intensität statt, wobei zu deren Beginn das Opfer nicht einmal 9 Jahre alt war. Er missbrauchte das Vertrauen des Opfers in ihn als Götti und Quasi-Stiefvater aufs Gröbste und setzte es psychisch mit einem Schweigegebot unter Druck. Mit teilweise grösseren Geschenken liess er ein Gefühl der Abhängigkeit entstehen. Indem er die Gegenwehr des Opfers mehrmals brach und sogar Geschlechtsverkehr mit ihm erzwang, erzeugte er beim Opfer ein Gefühl enormer Ohnmacht und künftiger Angstzustände. Die Bezugspersonen in der Schule stellten beim Opfer mangelndes Selbstvertrauen, Bedrücktheit und Unsicherheit fest und rieten beim Elterngespräch im November 2001 auch eine therapeutische Behandlung des Opfers beim KJPD an. Die Gesprächstherapie wurde zwar begonnen, aber nach dem 20.01.2003 durch die Mutter des Opfers wieder abgebrochen (act. S. 261 f, 1047 f), was die Ohnmachts- und Schuldgefühle beim Opfer noch zusätzlich verstärkte (act. S. 1039). Das aufgrund der vorgefallenen sexuellen Übergriffe durchgeführte Strafverfahren führte zu zusätzlichen Belastungen für das Opfer, die sich in erheblichen Schulschwierigkeiten manifestierten. Auch dessen Eintritt ins Berufsleben verlief nicht problemlos. Ein diesbezüglicher Zusammenhang mit der erlittenen Persönlichkeitsverletzung liegt auf der Hand. Angesichts der vorliegenden Umstände erscheint eine Genugtuung in der Höhe von CHF 20'000.-- als angemessen (vgl. dazu auch Hütte/Ducksch/Guerrero, Genugtuung, X/1998-2000/Ziff. 23, 25c, 29a, X/2003-2005/Ziff. 60 und 61). Zudem ist die zuständige Vormundschaftsbehörde zu beauftragen, die geeigneten Massnahmen zum Schutz der dem Opfer zustehenden Genugtuungssumme zu treffen, da die sorgfältige Vermögensverwaltung aufgrund der ambivalenten Haltung der gesetzlichen Vertreterin des Opfers nicht hinreichend gewährleistet erscheint.


KGE ZS vom 25. April 2006 (100 05 620)



Back to Top