Invalidenversicherung - Ausgeglichener Arbeitsmarkt und Diskriminierungsverbot

Begriff des ausgeglichenen Arbeitsmarkts (Art. 16 ATSG; Art. 28 Abs. 2 IVG; E. 7.2)
Zumutbarkeitsbeurteilung bei der Invaliditätsbemessung (Art. 16 ATSG; Art. 28 Abs. 2 IVG; E. 7.3)
Konkretisierungspflicht der Arbeitsmöglichkeiten (E. 7.4)
Bedeutung des invaliditätsfremden Faktors bei der Zumutbarkeitsbeurteilung (E. 7.5)
Diskriminierungsverbot (Art. 8 Abs. 2 BV; E. 8.1 und 8.2)



Sachverhalt

Der 1960 geborene X. stellte bei der Eidgenössischen Invalidenversicherung ein Gesuch um eine Invalidenrente. Nachdem die IV-Stelle die gesundheitlichen und erwerblichen Verhältnisse abgeklärt hatte, lehnte sie den Anspruch auf eine Invalidenrente gestützt auf einen Invaliditätsgrad von 10 % ab. Daran hielt sie auf Einsprache von X. mit Entscheid vom 4. August 2006 fest. Gegen diesen Einspracheentscheid erhob X. fristgerecht Beschwerde.



Erwägungen

7.2 Nach der erneuten Abklärung des gesundheitlichen Zustandes des Versicherten und der Auswirkungen auf dessen Arbeitsfähigkeit wird zu prüfen sein, wie es sich mit dem Versicherten erhobenen Einwand verhält, es existierten keine Tätigkeiten auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt, welche seinen gesundheitlichen Beeinträchtigungen angepasst seien. Der Begriff des ausgeglichenen Arbeitsmarkts ist ein theoretischer und abstrakter Begriff, welcher dazu dient, den Leistungsbereich der Invalidenversicherung von jenem der Arbeitslosenversicherung abzugrenzen. Der Begriff umschliesst einerseits ein bestimmtes Gleichgewicht zwischen dem Angebot von und der Nachfrage nach Stellen; anderseits bezeichnet er einen Arbeitsmarkt, der von seiner Struktur her einen Fächer verschiedenartiger Stellen offen hält. Nach diesen Gesichtspunkten bestimmt sich im Einzelfall, ob die invalide Person die Möglichkeit hat, ihre restliche Erwerbsfähigkeit zu verwerten und ob sie ein rentenausschliessendes Einkommen zu erzielen vermag oder nicht (BGE 130 V 346 E. 3.2, 110 V 276 E. 4b; ZAK 1991 S. 320 E. 3b).


7.3 Es obliegt grundsätzlich der Verwaltung, konkrete Arbeitsmöglichkeiten zu bezeichnen, welche aufgrund der ärztlichen Angaben und unter Berücksichtigung der übrigen Fähigkeiten der versicherten Person in Frage kommen (BGE 107 V 20 E. 2b; AHI 1998 S. 290 E. 3b; SVR 2006 IV Nr. 10 S. 39 E. 4.1 [Urteil vom 26. Oktober 2004, I 457/04]). In Betracht fallen nur Einsatzmöglichkeiten, die unter Berücksichtigung der gesamten objektiven und subjektiven Gegebenheiten des Einzelfalles zumutbar erscheinen (BGE 113 V 28 E. 4a; AHI 2001 S. 282 E. 5a/aa [Urteil vom 22. August 2001, I 11/00]). Dabei darf nicht von unrealistischen Annahmen ausgegangen werden; im Rahmen der sowohl durch den Begriff des ausgeglichenen Arbeitsmarktes als auch die Selbsteingliederungspflicht gebotenen Zumutbarkeitsprüfung sind die persönlichen und beruflichen Gegebenheiten der versicherten Person zu würdigen (Urteil vom 27. Mai 2005, I 819/04, E. 2.2 mit Hinweisen). Die Verwaltung oder das Gericht muss beurteilen, ob ein potenzieller Arbeitgeber die versicherte Person einstellen würde (SVR 2003 IV Nr. 35 S. 108 E. 2.3 [Urteil vom 26. Mai 2003, I 462/02; Urteil vom 4. April 2002, I 401/01, E. 4b). Nach der Rechtsprechung dürfen nicht übermässige Anforderungen an die Konkretisierung von Arbeitsgelegenheiten und Verdienstmöglichkeiten gestellt werden (AHI 1998 S. 290 E. 3b). Es ist nicht in jedem Fall erforderlich, die zumutbaren Tätigkeiten im Einzelnen zu bezeichnen. Vielmehr genügt ein genereller Verweis auf den ausgeglichenen Arbeitsmarkt, soweit klar feststeht, dass der versicherten Person auch unter Berücksichtigung der gesundheitlichen Einschränkungen ein breites Spektrum an zumutbaren Tätigkeiten offen steht.


7.4 Im hier zu beurteilenden Fall ist fraglich, ob sich auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt - realistisch betrachtet - ein Arbeitgeber finden lässt, der bereit wäre, den nach nunmehr über zehn Jahren nicht mehr erwerbstätig gewesenen, mangelhaft ausgebildeten Versicherten mit den gesundheitlichen Einschränkungen (Infektanfälle und den damit verbundenen immer wieder auftretenden Zeiten der Arbeitsunfähigkeit) eine längerfristige Stelle zuzusichern. Zweifel ergeben sich namentlich aus dem Umstand, dass die Fachpersonen des Bürgerspitals und des Weizenkorns im Rahmen der beruflichen Massnahmen zum Ergebnis gelangt sind, dass der Versicherte aufgrund der gesundheitlichen Einschränkungen kaum verwertbare Leistungen erbringe und deshalb nicht vermittelbar sei. Indem die IV-Stelle bei vorliegender unklarer Situation lediglich darauf hinweist, dass dem Versicherten trotz seiner gesundheitlichen Einschränkungen leichte Hilfs-, Kontroll- und Überwachungstätigkeiten auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt offen stehen, kommt sie ihrer Konkretisierungspflicht nicht hinreichend nach. Insofern bedarf der Sachverhalt auch in dieser Hinsicht weiterer Abklärungen.


7.5 Des Weiteren ist zu beachten, dass die mangelhafte Ausbildung des Versicherten obgleich an sich ein invaliditätsfremder Faktor, doch rechtserheblich sein kann. Die Invalidenversicherung hat zwar nicht dafür einzustehen, dass eine versicherte Person zufolge ihrer mangelhaften Ausbildung keine ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung angepassten Arbeit mehr findet (BGE 129 V 225 E. 4.4, 107 V 21 E. 2c). Soweit aber die Zumutbarkeit weiterer Erwerbstätigkeit nach Massgabe der Selbsteingliederungspflicht und der auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt vorhandenen Arbeitsgelegenheiten in Frage steht, stellt die mangelhafte Schul- und Ausbildung keinen invaliditätsfremder Faktor mehr dar (vgl. Urteile vom 27. Mai 2005,


I 819/04, E. 2.2 und vom 28. Juli 2003, I 236/03, E. 2.2 mit Hinweisen; vgl. auch Rudolf Rüedi, Im Spannungsfeld zwischen Schadenminderungspflicht und Zumutbarkeitsgrundsatz bei der Invaliditätsbemessung nach einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt, in: Schaffhauser/Schlauri [Hrsg.], Rechtsfragen der Invalidität in der Sozialversicherung, St. Gallen 1999, S. 41 f., 45). Die Ausbildung gehört zu jenen Eigenschaften, die zusammen mit den weiteren persönlichen und beruflichen Gegebenheiten dazu führen können, dass die der versicherten Person verbliebene Restarbeitsfähigkeit auf dem ausgeglichenen Arbeitsmarkt realistischerweise nicht mehr nachgefragt wird, und dass ihr deren Verwertung auch gestützt auf die Selbsteingliederungspflicht nicht mehr zumutbar ist. Die IV-Stelle hat demnach - entgegen ihrem Vorgehen - die mangelhafte Schul- und Ausbildung des Versicherten entsprechend zu gewichten (vgl. Urteil des EVG vom 23. Oktober 2003, I 392/02).


7.6 …


8. …


8.1 Das Diskriminierungsverbot nach Art. 8 Abs. 2 BV, welches sämtliche Organe staatlichen Handelns bindet und diese verpflichtet, zu dessen Verwirklichung beizutragen (Art. 5 und Art. 35 BV), schützt in qualifizierter Weise vor Ungleichbehandlungen (BGE 131 V 15 f. E. 3.4.4; Urteil des EVG vom 18. August 2005, I 68/02, E.5.2.1 mit zahlreichen weiteren Hinweisen). Diese Bestimmung verbietet zunächst ganz generell jede Diskriminierung und nennt sodann in einer durch "namentlich" als nicht abschliessend gekennzeichneten Aufzählung verschiedene unzulässige Unterscheidungsmerkmale. Die Bedeutung der spezifischen Diskriminierungsgebote liegt darin, "dass ungleiche Behandlungen einer besonders qualifizierten Begründungspflicht unterstehen. Sie dürfen nicht einfach an das Unterscheidungsmerkmal anknüpfen, an die Eigenschaft, welche die diskriminierte Gruppe definiert" (BGE 126 V 73 E. 4c/bb mit Verweis auf Amtl. Bull. 1998, S. 37 erste Spalte). Ein solcher Anknüpfungspunkt ist vorliegend jedoch nicht gegeben, werden doch alle bei der Beurteilung des Rentenanspruchs betroffenen Personen gleich behandelt. Ausgangslage ist dabei jeweils der Gesundheitszustand und nicht die schulische oder berufliche Ausbildung. Der Rentenanspruch des Versicherten wurde denn auch aufgrund der medizinischen Zumutbarkeitsbeurteilung und nicht wegen der mangelnden Schul- und Ausbildung abgelehnt. Eine Diskriminierung ist umso weniger festzustellen, als gemäss Auffassung des Gerichts die ungenügende Ausbildung des Versicherten nicht als invaliditätsfremder Faktor bei der Invaliditätsbemessung auszuklammern ist (vgl. Erwägung 7.5).


8.2 Zudem lässt sich aus dem Diskriminierungsverbot nach Art. 8 Abs. 2 BV kein gerichtlich durchsetzbares Egalisierungsgebot entnehmen (Urteil des EVG vom 18. August 2005, I 68/02, E. 5.2.1); namentlich verbürgt es grundsätzlich keinen individualrechtlichen Anspruch auf Herstellung faktischer Gleichheit (vgl. Urteil der II. Öffentlichrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts vom 30. November 2000, 2P.77/2000, E. 4b mit Hinweis). Die Beseitigung faktischer Benachteiligungen der durch Art. 8 Abs. 2 BV geschützten Gruppen in den verschiedensten Lebensbereichen obliegt vorab dem Gesetzgeber. Der Versicherte führt aber keine entsprechende gesetzliche Bestimmung an, welche den Versicherten schützen würde. Eine Verletzung des Art. 8 Abs. 2 BV ist somit nicht festzustellen.


KGE SV vom 27. Juni 2007 i.S. K. (720 06 219)


Dieser Entscheid ist noch nicht in Rechtskraft erwachsen.



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