Strafprozessrecht - Aussageverweigerungsrecht und Beweiswürdigung

Als allgemeiner Grundsatz des Strafprozessrechts ist anerkannt, dass niemand gehalten ist, zu seiner Belastung beizutragen. Der in einem Strafverfahren Beschuldigte ist demnach aufgrund seines Aussageverweigerungsrechts berechtigt zu schweigen, ohne dass ihm daraus Nachteile erwachsen dürfen. Allerdings kann nach der Praxis bei der Gewichtung belastender Elemente das Schweigen in Situationen, die nach einer Erklärung rufen, mitberücksichtigt werden; diesfalls sind die gesamten Umstände im Einzelfall zu würdigen (Art. 6 Ziff. 1 und 2 EMRK, Art. 14 Ziff. 3 lit. g UNO-Pakt II, Art. 32 Abs. 1 BV, Art. 249 BStP, § 46 Abs. 1 StPO, § 54 Abs. 1 lit. a, b und c StPO, § 185 Abs. 1 i. V. m. § 170 Abs. 1 Satz 2 StPO; E. 3.1).


Bei Vorliegen diverser Indizien (wie z. B. die Haltereigenschaft bei einem Strassenverkehrsdelikt), welche für den Angeklagten als Täter sprechen, und angesichts der Tatsache, dass dieser sich vor dem Kantonsgericht zum ersten Mal auf sein Zeugnisverweigerungsrecht beruft, reicht es nicht um Zweifel am Beweisergebnis zu wecken, wenn der Angeklagte ohne konkrete Angaben einzig einwendet, möglicherweise habe zum fraglichen Zeitpunkt nicht er, sondern ein Familienmitglied das Fahrzeug gelenkt (E. 3.2).



Sachverhalt

Mit Strafbefehl vom 12. Mai 2006 erklärte das Bezirksstatthalteramt S. den deutschen Staatsangehörigen R. D. des Überschreitens der allgemeinen Höchstgeschwindigkeit auf einer Autobahn schuldig und verurteilte ihn zu einer Busse von CHF 260.-- sowie zur Bezahlung der Verfahrenskosten von CHF 40.-- und einer Urteilsgebühr von CHF 50.--. Dieser Verurteilung wurde folgender Sachverhalt zugrunde gelegt: „R. D. fuhr am 25. März 2005 mit einem PW auf der Autobahn A2 in Richtung Bern/Luzern und überschritt bei Tenniken die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h um massgebliche 24 km/h" . Auf Einsprache vom 15. Mai 2006 hin erklärte das Strafgerichtspräsidium Basel-Landschaft mit Urteil vom 18. Januar 2007 R. D. in Bestätigung des angefochtenen Strafbefehls der einfachen Verletzung von Verkehrsregeln schuldig und verurteilte ihn zu einer Busse von CHF 260.-- sowie zur Tragung der Verfahrenskosten und einer Urteilsgebühr von CHF 300.--, im Falle schuldhafter Nichtbezahlung der Busse zu einer Ersatzfreiheitsstrafe von drei Tagen; dies in Anwendung von Art. 90 Ziff. 1 SVG (in Verbindung mit Art. 32 Abs. 2 SVG und Art. 4a Abs. 1 lit. d VRV), Art. 106 Abs. 2 StGB sowie § 157 Abs. 2 StPO.


Gegen dieses Urteil des Strafgerichtspräsidiums erklärte R. D. mit Eingabe vom 29. Januar 2007 die Appellation. Von Seiten der Staatsanwaltschaft liegt keine Stellungnahme vor.


Mit verfahrensleitenden Verfügungen vom 16. Mai 2007 bzw. vom 6. Juni 2007 wurde das mündliche Verfahren angeordnet und der Appellant auf entsprechendes Gesuch vom 4. Juni 2007 hin von der Teilnahme an der Verhandlung dispensiert.



Erwägungen

1. (…)


2. Der Appellant macht via seinen Rechtsvertreter zur Begründung der Appellation im Wesentlichen geltend, es sei unbestritten, dass es sein Fahrzeug sei, welches zum fraglichen Zeitpunkt auf der Autobahn A2 in Richtung Bern/Luzern bei Tenniken geblitzt worden sei. Bestritten werde aber, dass er das Fahrzeug zu diesem Zeitpunkt selber gelenkt habe. Es bleibe ausserdem eine unbewiesene Mutmassung, dass es sich bei der Fahrt um eine Ferienfahrt gehandelt habe. Selbst wenn es sich jedoch um eine Ferienfahrt gehandelt haben sollte, sei damit nicht mehr bewiesen, als bereits durch die Haltereigenschaft ausgesagt sei. Das Radarphoto sei qualitativ zu schlecht, da der unverdeckte Teil des Gesichts den Schluss nicht zulasse, wonach er der Fahrer gewesen sei. Genauso gut könne es sein, dass ein Familienmitglied das Fahrzeug gelenkt habe. Er wolle aber unter keinen Umständen ein Familienmitglied einer Strafverfolgung aussetzen. Im Ergebnis sei der rechtsgenügliche Nachweis der Täterschaft des Angeklagten nicht gelungen, weshalb das angefochtene Urteil unter o/e Kostenfolge aufzuheben sei. Im Sinne von Nova führt der Rechtsvertreter aus, es habe nie eine Einvernahme mit dem Angeklagten gegeben, dieser sei nicht auf sein Zeugnisverweigerungsrecht hingewiesen worden und er berufe sich nunmehr auf das Zeugnisverweigerungsrecht.


3.1 Nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung (Art. 249 BStP; § 185 Abs. 1 in Verbindung mit § 170 Abs. 1 Satz 2 StPO) hat das urteilende Gericht frei von Beweisregeln und nur nach seiner persönlichen Ansicht aufgrund gewissenhafter Prüfung darüber zu entscheiden, ob es eine Tatsache für bewiesen hält. Das Gericht trifft sein Urteil unabhängig von der Zahl der Beweismittel, welche für eine bestimmte Tatsache sprechen, und ohne Rücksicht auf die Form des Beweismittels (Robert Hauser/Erhard Schweri/Karl Hartmann, Schweizerisches Strafprozessrecht, 6. Auflage, Basel 2005, § 54 N 3 f.; mit Hinweisen).


Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist gemäss der aus Art. 32 Abs. 1 BV (bzw. Art. 4 aBV) fliessenden und in Art. 6 Ziff. 2 EMRK verankerten Maxime „in dubio pro reo" bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld zu vermuten, dass der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist.


Als Beweiswürdigungsregel besagt die Maxime, dass sich der Strafrichter nicht von der Existenz eines für den Angeklagten ungünstigen Sachverhalts überzeugt erklären darf, wenn bei objektiver Betrachtung Zweifel bestehen, ob sich der Sachverhalt so verwirklicht hat. Die Beweiswürdigungsregel ist verletzt, wenn der Strafrichter an der Schuld des Angeklagten hätte zweifeln müssen. Dabei sind bloss abstrakte und theoretische Zweifel nicht massgebend, weil solche immer möglich sind und absolute Gewissheit nicht verlangt werden kann. Es muss sich um erhebliche und nicht zu unterdrückende Zweifel handeln, d.h. um solche, die sich nach der objektiven Sachlage aufdrängen (BGE 124 IV 87 E. 2a; mit Verweis auf BGE 120 Ia 31). Willkür in der Beweiswürdigung liegt vor, wenn die Behörde in ihrem Entscheid von Tatsachen ausgeht, die mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch stehen, auf einem offenkundigen Fehler beruhen oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderlaufen (Urteil des Bundesgerichts vom 5. April 2005 [1P.39/2005] E. 3.2).


Als allgemeiner, bisher aus Art. 4 aBV abgeleiteter Grundsatz des Strafprozessrechts ist anerkannt, dass niemand gehalten ist, zu seiner Belastung beizutragen. Der in einem Strafverfahren Beschuldigte ist demnach nicht zur Aussage verpflichtet. Vielmehr ist er aufgrund seines Aussageverweigerungsrechts berechtigt zu schweigen, ohne dass ihm daraus Nachteile erwachsen dürfen. Eine ausdrückliche Garantie, dass der Beschuldigte nicht gezwungen werden darf, gegen sich selbst als Zeuge auszusagen oder sich schuldig zu bekennen, enthält Art. 14 Ziff. 3 lit. g UNO-Pakt II. Ferner leiten Lehre und Rechtsprechung das Recht des Beschuldigten, zu schweigen und sich nicht selbst belasten zu müssen, auch aus Art. 6 Ziff. 1 EMRK ab (Urteil des Bundesgerichts vom 18. Mai 2004 [1P.635/2003] E. 2.1, mit Hinweisen). Im kantonalen Strafprozessrecht normiert überdies § 46 Abs. 1 StPO, dass die angeschuldigte Person nicht zur Aussage verpflichtet ist und nicht dazu gezwungen werden kann; ausserdem hält § 54 Abs 1 lit. c StPO fest, dass zur Verweigerung des Zeugnisses berechtigt ist, wer durch Beantwortung einer ihm gestellten Frage sich selbst der Gefahr einer Strafverfolgung wegen eines Verbrechens oder Vergehens oder der ernstlichen Gefahr eines anderen schweren Nachteils aussetzen würde. Allerdings darf nach der Praxis bei der Gewichtung belastender Elemente das Schweigen in Situationen, die nach einer Erklärung rufen, mitberücksichtigt werden; diesfalls sind die gesamten Umstände im Einzelfall zu würdigen (Urteil des Bundesgerichts vom 15. September 2004 [1P.277/2004] E. 2.1, mit Hinweisen).


Des Weiteren sehen alle schweizerischen Prozessordnungen vor, dass der Zeuge in gewissen Situationen nicht zur Aussage verpflichtet werden darf. So können nahe Angehörige des Beschuldigten, wie seine Eltern, sein Ehegatte, seine Kinder, die Geschwister und andere nahe Verwandte frei entscheiden, ob sie aussagen wollen oder nicht. Entscheiden sie sich zur Auskunft, so stehen sie wie jeder andere Zeuge unter Wahrheitspflicht. Auf einen Verzicht auf das Zeugnisverweigerungsrecht können sie zurück kommen und im Verlaufe der gleichen Einvernahme oder bei einer späteren Befragung sich auf das ihnen zustehende Recht berufen. Im Allgemeinen bleiben aber die gemachten Aussagen bestehen und dürfen im weiteren Verfahren berücksichtigt werden (Hauser/ Schweri/ Hartmann, a.a.O., § 62 N 14). Konkretisiert sieht § 54 Abs. 1 lit. c in Verbindung mit lit. a und lit. b StPO vor, dass zur Verweigerung des Zeugnisses auch berechtigt ist, wer durch Beantwortung einer ihm gestellten Frage unter anderem Ehegatten, Kinder, Geschwister etc. der Gefahr einer Strafverfolgung wegen eines Verbrechens oder Vergehens oder der ernstlichen Gefahr eines anderen schweren Nachteils aussetzen würde.


3.2 Die Vorinstanz begründete ihren Schuldspruch im Wesentlichen folgendermassen: Es sei unbestritten, dass der Angeklagte Halter des Fahrzeuges sei. Des Weiteren habe es sich bei der Fahrt eindeutig um eine Ferienfahrt gehandelt, wofür es naheliegend erscheine, das eigene Fahrzeug zu benutzen. Ausserdem sei nach einem Vergleich zwischen dem Radarphoto und dem Ausweisphoto davon auszugehen, dass der Fahrzeughalter auch der Lenker gewesen sei. Schliesslich gebe dieser keine Erklärung ab, wer sonst an seiner Stelle gefahren sei.


Was der Angeklagte gegen die Erwägungen des Strafgerichtspräsidiums vorbringt, ist nicht geeignet, das angefochtene Urteil umzustossen.


Für das Kantonsgericht ist zwar nicht ersichtlich, weshalb die Strafuntersuchungsbehörden die deutschen Behörden nicht rechtshilfeweise um die Einvernahme des Angeklagten zu dem ihm gegenüber erhobenen Vorwurf der einfachen Verkehrsregelverletzung ersucht hat. Allerdings geht der implizit erhobene Vorwurf fehl, dass die Verteidigungsrechte des Angeklagten verletzt worden seien, nachdem dieser in Gewährung des rechtlichen Gehörs sowohl vor Erlass des Strafbefehls als auch danach im Rahmen der Einsprache vor dem Strafgericht und im Rahmen der Appellation vor dem Kantonsgericht die Möglichkeit hatte, Beweisanträge zu stellen und eine Verteidigungsschrift bzw. eine Appellationsbegründung einzureichen. Dass der Angeklagte nicht persönlich vor dem Strafgericht und dem Kantonsgericht erscheinen musste und zur Sache befragt wurde, geschah ausdrücklich auf dessen Gesuch um Dispensation von der Verhandlung hin, weshalb es als rechtsmissbräuchlich erscheint, wenn dies nachträglich als prozessualer Mangel geltend gemacht wird.


Ebenso ist der Einwand des Angeklagten, er sei nicht auf sein Zeugnisverweigerungsrecht hingewiesen worden, irrelevant. Abgesehen davon, dass er offenbar Richter in Deutschland ist und daher von Berufes wegen Kenntnis von diesem Recht hat, ist er wie vorgängig festgestellt tatsächlich nie von den Strafverfolgungsbehörden zur Sache einvernommen worden und hat dementsprechend überhaupt keine Aussage gemacht, welche in Verletzung prozessualer Pflichten im Verfahren nicht verwertet werden dürfte. Des Weiteren beruft er sich - nach den entsprechenden Erwägungen im angefochtenen Urteil - zum ersten Mal vor dem Kantonsgericht auf sein Zeugnisverweigerungsrecht, obwohl er bereits seit dem Zeitpunkt vor Erlass des Strafbefehls durch einen schweizerischen Rechtsanwalt vertreten war. Auch wenn der Angeklagte jederzeit das Recht hat, sich auf sein Zeugnisverweigerungsrecht zu berufen, und ihm aus dieser Weigerung direkt kein Nachteil erwachsen darf, so können dennoch die früher gemachten Aussagen verwertet werden bzw. kann im vorliegenden Fall das Aussageverhalten in die Würdigung einfliessen. In diesem Zusammenhang ist ausserdem festzustellen, dass der Angeklagte nicht geltend macht, dass ein naher Verwandter gefahren sei und er sich deshalb auf sein Zeugnisverweigerungsrecht berufe; vielmehr bringt er ebenfalls zum ersten Mal vor dem Kantonsgericht lediglich den pauschalen Einwand vor, möglicherweise sei ein Familienmitglied zum fraglichen Zeitpunkt Lenker des registrierten Fahrzeugs gewesen.


Wie die Vorinstanz bereits korrekt erwogen hat, kann nach der Praxis die Haltereigenschaft bei einem Strassenverkehrsdelikt ein Indiz für die Täterschaft sein (Urteil des Bundesgerichts vom 15. September 2004 [1P.277/2004] E. 3.1), wobei im vorliegenden Fall unbestritten ist, dass der Angeklagte Halter des Fahrzeuges ist, welches mit übersetzter Geschwindigkeit registriert worden ist. Auch die Schlussfolgerung, dass es sich aufgrund der Gepäckbox und der Skier auf dem Autodach und der Begleitperson (sowie angesichts der Fahrstrecke des in Hamm wohnhaften Angeklagten und der Übertretungszeit um 07:05 Uhr am Morgen) um eine Ferienfahrt gehandelt haben muss, wofür man normalerweise sein eigenes Fahrzeug verwendet, ist nicht zu beanstanden. Schliesslich spricht auch ein Vergleich zwischen dem Radarphoto (das zugegebenermassen nur von mittlerer Qualität ist) und dem Ausweisphoto überwiegend für eine Übereinstimmung. Im Ergebnis liegen somit drei Indizien vor, welche für den Angeklagten als Täter sprechen und damit von seiner Seite einen erhöhten Erklärungsbedarf begründen. Aufgrund der genannten Indizien und der Tatsache, dass er sich vor dem Kantonsgericht zum ersten Mal auf sein Zeugnisverweigerungsrecht beruft, reicht es deshalb nicht um Zweifel am Beweisergebnis zu wecken, wenn der Angeklagte ohne konkrete Angaben einzig einwendet, er sei zum fraglichen Zeitpunkt nicht gefahren, vielmehr könne es auch sein, dass ein Familienmitglied das Fahrzeug gelenkt habe.


Nach Ausgeführtem bestehen für das Kantonsgericht bei objektiver Betrachtung keine Zweifel, dass der Angeklagte nicht nur der Halter, sondern am 25. März 2005 auch der Lenker seines Personenwagens war, welcher auf der Autobahn A2 in Richtung Bern/Luzern bei Tenniken die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h um massgebliche 24 km/h überschritt hat, weshalb auch kein Platz für die Anwendung der Maxime „in dubio pro reo" verbleibt.


4. (…)


5. (…)


6. (…)


KGE ZS vom 17. Juli 2007 i. S. Statthalteramt S. / R. D. (100 07 425 [A 91]/ NEP)



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