Strafrecht - Anforderungen an den Beweis bei der Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde nach Art. 229 StGB

Ein allgemein gehaltenes Schreiben der SUVA, das ohne vertiefte Sachverhaltsabklärungen verfasst wurde, wonach ein bestimmtes Vorgehen immer die anerkannten Regen der Baukunde verletze, vermag den Nachweis einer strafbaren Handlung nicht zu begründen. Ist die Verletzung der anerkannten Regeln der Baukunde nicht bereits aus schriftlich festgehaltenen anerkannten Normen offensichtlich, bedarf es zum Nachweis einer strafbaren Handlung eines umfassenden Gutachtens, das sich mit dem Einzelfall auseinander setzt (Art. 229 StGB, E. 3 und 4).



Sachverhalt

In einem Industriebetrieb wurde ein temporäres Gerüst (Hängebrücke) montiert. Diese Hängebrücke war an der Westseite mit Ketten an einem T-Träger, die Ostseite an einem Handlauf befestigt. Als das Opfer gut einen Monat nach Aufbau das Gerüst auf der Ostseite betrat, brach der Handlauf an einer alten Schweissnaht und das Gerüst stürzte teilweise ein. Das Opfer fiel neun Meter in die Tiefe und verletzte sich schwer. Mit Strafbefehl vom 12. Dezember 2005 wurde der verantwortliche Bauleiter wegen fahrlässiger Verletzung der Regeln der Baukunde und fahrlässiger schwerer Körperverletzung zu 20 Tagen Gefängnis bedingt verurteilt. Auf Einsprache des Angeklagten hin sprach ihn das Strafgericht mit Urteil vom 8. Dezember 2006 frei. Dagegen appellierte das Opfer und verlangte die Bestätigung des Strafbefehls. Die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte beantragten Freispruch.



Erwägungen

1. (…)


2. (…) Das später eingestürzte Gerüst wurde Anfang August 2000 in ca. 6 Metern Höhe über Normalboden bzw. 9 Metern Höhe über der späteren Aufprallstelle zwischen zwei fixen Podesten errichtet. Dazu wurden unter den beiden Podesten längs zwei Holzbalken in Form einer Brücke als Verbindung zwischen den beiden Podesten montiert. Auf die Balken wurden quer Holzbretter gelegt. Die Holzbalken wurden am westlichen Fixpodest mittels Ketten an einem massiven T-Träger befestigt, an der Ostseite ebenfalls mittels Ketten an einem Handlauf des östlichen Fixpodests. In der Mitte dieser Arbeitsbrücke befand sich ein Kessel, an welchem die Schweissarbeiten, wozu das Gerüst ursprünglich gebaut wurde, durchzuführen waren. Dieser Kessel teilte das Gerüst in zwei Hälften. Die Holzbalken unterquerten den Kessel im Norden seitlich unterhalb und im Süden direkt unterhalb. Unterhalb des Kessels hatte es keine Holzbretter. Der Kessel teilte somit das Gerüst in zwei Seiten, wobei es aufgrund der leicht nicht symmetrischen Anordnung der Holzbalken unter gewissen Anstrengungen möglich war, am Kessel vorbei auf die jeweilige andere Seite zu gelangen. Vorbestehende andere Fixinstallationen rund um das Gerüst dienten zumindest insofern als Absperrung des Gerüsts, als dass ein Zugang auf das Gerüst, sofern man sich nicht einer Leiter bediente, nur durch Über- oder Untersteigen eines Metallrohrs oder -balkens möglich war. Im Gegensatz zur Vorinstanz ist jedoch davon auszugehen, dass beide Seiten des Gerüsts für ihren jeweiligen Zweck sicher waren, mithin keine Seite als unsicher zu gelten hatte. Währenddem die Westseite für die Schweissarbeiten und somit zwei Arbeiter und Geräte dimensioniert wurde, war die Ostseite gemäss Plan ebenfalls begehbar. Allerdings war ein Betreten der Ostseite gemäss Auftrag nur zum Auf- und Abbau des Gerüstes vorgesehen. Somit hatte die Westseite stärkere Belastungen auszuhalten als die Ostseite, die lediglich das Gewicht eines Mannes beim Auf- und Abbau zu tragen hatte und darüber hinaus Stützfunktion hatte. Die Annahme, der Gerüstbauer erhielte den Auftrag, ein Gerüst mit einer sicheren und einer unsicheren, nicht zu belastenden Seite zu bauen, ist nicht nachvollziehbar. Einerseits hat der Angeklagte heute glaubwürdig ausgeführt, dass die Ostseite zumindest für Auf- und Abbau zu belasten war. Dementsprechend lagen dort zwischen den Balken auch Bretter, auf die das Opfer stieg. Wäre es jederzeit verboten gewesen, diese Seite zu belasten, wäre es auch sinnlos, dort Bretter, die eine dortige Belastung überhaupt erst ermöglichten, zu verlegen. Anderseits ist zu berücksichtigen, dass das Gerüst an vier Ketten hing. Alleine durch das Eigengewicht des Gerüstes erfolgte somit eine Belastung auf die Ketten der Ostseite. Zudem wurde das Gerüst durch die Schweissarbeiten erheblich belastet. Aus naturgesetzmässigen Gründen musste sich diese Belastung auf alle vier Ketten verteilen - wenn auch der Zug auf die Ketten auf der näheren Westseite bedeutend höher war. Der Zugang auf das Gerüst erfolgte - zumindest Anfang August während der Schweissarbeiten - mittels einer Leiter, die vom Normalboden direkt auf die Westseite des Gerüsts führte. Soweit das Opfer heute erstmals geltend macht, die Schweissarbeiten hätten auf der Ostseite stattgefunden, ist dies nicht stichhaltig. Diese Annahme widerspräche fundamental der tatsächlichen Gerüstkonstruktion, wäre es doch in diesem Falle notwendig gewesen, die umfangreichen Schweissanlagen unter dem Kessel hindurchzubringen auf eine nur für schwächere Lasten dimensionierte Stelle des Gerüsts. Auch die Pläne in den Unterlagen zeigen einen Zugang und Schweissarbeiten auf der Westseite und dieser Angabe wurde bislang auch nie widersprochen. Entgegen der Vorinstanz ist zudem davon auszugehen, dass die auf das Gerüst führende Leiter nach dem Ende der Schweissarbeiten entfernt worden ist, das Gerüst somit also nur noch durch Anstellen einer neuen Leiter oder Überschreiten einer Abschrankung erreichbar gewesen war. Dies ergibt sich aus den Aussagen des Angeklagten im Untersuchungsverfahren und jenen des Opfers in den beiden Hauptverhandlungen. Dies ist im Übrigen auch die für den Angeklagten günstigere Variante, da er behauptet, den Zugang zum Gerüst dadurch unterbunden zu haben, womit er seiner Sorgfaltspflicht, das Betreten des Gerüsts durch Unbefugte zu unterbinden, eher nachgekommen wäre, als wenn die Leiter noch dort gestanden hätte. Nach Abschluss der Schweissarbeiten, aber vor dem Unfall, dürfte das Gerüst mutmasslich zumindest einmal erneut betreten worden sein, da das Opfer den Auftrag hatte, Metallklammern abzumontieren, die mutmasslich nur vom Gerüst aus nach Abschluss der Schweissarbeiten montiert worden sein konnten. Zusammengefasst kann also davon ausgegangen werden, dass der Angeklagte den Auftrag hatte, ein Gerüst zu erstellen, das auf der Westseite schwere und auf der Ostseite leichte Belastungen auszuhalten hatte und welches nach Abschluss der Schweissarbeiten nur durch selbstständiges Anstellen einer Leiter oder Überschreiten eines Metallbalkens oder -rohrs erreichbar war. Zudem ist anzunehmen, dass das Gerüst nach Abschluss der Schweissarbeiten, jedoch vor dem Unfall, erneut benutzt wurde.


3. Zunächst ist der Vorwurf des Verstosses gegen die anerkannten Regeln der Baukunde (Art. 229 StGB) zu prüfen. Dies bedarf in objektiver Hinsicht zunächst des Nachweises, dass eine anerkannte Regel der Baukunde verletzt worden ist. Im vorliegenden Fall ist zu fragen, ob die Befestigung des oben geschilderten Gerüstes an einem Handlauf den anerkannten Regeln der Baukunde widerspricht. Nach Art. 12 der Verordnung über die Verhütung von Unfällen und Berufskrankheiten vom 19. Dezember 1983 (Verordnung über die Unfallverhütung, VUV) müssen Gebäude und andere Konstruktionen und nach Art. 25 VUV Arbeitsmittel so gestaltet sein, dass sie bei ihrer bestimmungsgemässen Benutzung den auftretenden Belastungen und Beanspruchungen standhalten. Art. 35 Abs. 2 der Verordnung über die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei Bauarbeiten in der während dem Unfall geltenden Fassung vom 29. März 2000 (Bauarbeitenverordnung, BauAV) hielt fest, dass Gerüste alle einwirkenden Kräfte, auch während des Auf-, Um- und Abbaus, aufnehmen können müssen, namentlich Eigengewicht, Nutzlasten, Windkräfte, Schneelasten, dynamische Einwirkungen z.B. bei Sprüngen, Stürzen oder Erschütterungen sowie spezielle Kräfte, die während des Auf-, Um- und Abbaues auftreten. Dabei ist das Gerüst zug- und druckfest zu verankern oder anderweitig in geeigneter Weise zu fixieren (Art. 39 BauAV). Weitere Vorgaben für Holzarbeitsgerüste waren in Art. 50 BauAV festgehalten.


4. Fraglich ist, ob in diesem konkreten Fall die Befestigung des Gerüsts an einem Handlauf den anerkannten Regeln der Baukunde widersprochen hat. Auf allgemeine Anfrage der Untersuchungsbehörden teilte die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) in einem 1-seitigen Schreiben vom 27. November 2001 mit, dass ihrer Ansicht nach ein Handlauf nicht für solche Lasten dimensioniert sei und demzufolge auch nicht zu diesem Zweck verwendet werden dürfe. Daher sei das Gerüst nicht nach den Regeln der Baukunde erstellt worden. Für das Kantonsgericht ist nicht nachvollziehbar, aufgrund welcher Erkenntnisse die SUVA diese Einschätzung abgegeben hat. Ebenso wenig ist hinreichend klar, was die SUVA mit "solche Lasten" gemeint hat (Eigengewicht des Gerüsts, leichte Belastung durch Arbeiten, schwerere oder schwere Belastung etc.). Offenbar stützt sich das Schreiben auf eine allgemeine Meinung der SUVA, wonach Gerüste grundsätzlich nicht an Handläufen montiert werden dürfen. Dabei ging die SUVA mutmasslich auch davon aus, dass das Gerüst an der Ostseite wie an der Westseite schwer belastet werden würde. Dies war jedoch augenscheinlich nie der Fall, die Ostseite war nur zu Auf- und Abbauarbeiten vorübergehend zu belasten, und nicht, wie die Westseite, mit schweren, andauernden Schweissarbeiten. Eine eingehende Prüfung der Konstruktion und des Unfallhergangs durch einen Experten fand nie statt, insbesondere wurde nie ein wissenschaftlichen Anforderungen genügendes Gutachten ausgefertigt. Nachweislich stürzte das Gerüst erst über einen Monat nach seiner Erstellung ein, vorher hielt es die ihm zugedachten Lasten aus. Es ist somit im Zweifel zu Gunsten des Angeklagten durchaus vorstellbar, dass im vorliegend zu beurteilenden Einzelfall eine vorwiegend der Fixierung dienende Verankerung an einem Handlauf, der an dieser Stelle aufgrund der Konstruktion auch nur geringfügige Lasten zu tragen hatte, den Regeln der Baukunde durchaus entsprochen haben kann. Zudem ist zu berücksichtigen, dass nach Art. 229 StGB nicht die Verletzung irgendeiner Regel der Baukunde, sondern einer anerkannten Regel der Baukunde zu beweisen ist. Dabei handelt es sich um einen begrenzbaren Kreis von Normen, die aufgrund ihrer Fundamentalität im Baugewerbe nicht angezweifelt werden. Sie sind häufig in Gesetzen oder Verordnungen kodifiziert, ergeben sich aus Resultaten von eingehenden Prüfungen durch die Eidgenössischen Technischen Hochschulen (ETH) oder die Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt (EMPA), aus von Fachverbänden aufgestellten Bauregeln, z.B. den Normen des Schweizerischen Ingenieurs- und Architektenvereins (SIA-Normen), oder es handelt sich um andere fundamentale Usanzen der Praxis (vgl. Felix Bendel, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit bei der Verletzung der Regeln der Baukunde [Art. 229 StGB], Winterthur 1960, S. 51 ff.). Eine nach diesen Grundsätzen anerkannte Norm, dass Gerüste unter keinen Umständen an Handläufen angebracht werden dürfen, ist nicht ersichtlich. Auch aus dem oben zitierten Art. 35 BauAV ergibt sich nur eine allgemeine Regel, dass die Gerüste alle auf sie einwirkenden Kräfte aufnehmen müssen - wie die Verankerung zu erfolgen hat, wird nicht festgeschrieben. Nachweislich war das Gerüst während der ihm zugedachten Belastung - Schweissarbeiten auf der Westseite, Aufbaulasten auf beiden Seiten - stabil. Freilich mag dem Laien eine Befestigung eines Gerüstes an einem Handlauf als etwas nonkonform erscheinen. Eine solche wissenschaftlich nicht fundierte Ansicht kann jedoch nicht als Beweis der Verletzung anerkannter Regeln der Baukunde angesehen werden. Somit vermag die Anklagebehörde wie auch das Opfer nicht den Beweis zu erbringen, dass im konkreten Fall die Befestigung einer Seite des Gerüsts an einem Handlauf die anerkannten Regeln der Baukunde verletzt hatte. Dementsprechend fehlt es auch am Nachweis der Existenz einer aus einer allfälligen Regelverletzung herrührenden Allgemeingefahr, weshalb der Angeklagte vom Vorwurf der Gefährdung durch Verletzung der Baukunde freizusprechen ist.


5. (…)


6. (…)


KGE ZS vom 10. Juli 2007 in Sachen Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft und S. P. gegen H. S. (100 07 196 [A 40]/FRS)



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