Staatsverträge

Die Rückführung widerrechtlich verbrachter Kinder nach dem Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HEntfÜ) vom 25. Oktober 1980


Im Kanton Basel-Landschaft ist im Bereich der Anwendung des HEntfÜ trotz fehlender kantonaler gesetzlicher Grundlage das Rechtsmittel der Beschwerde gegen den Entscheid des Bezirksgerichtspräsidiums zulässig (Art. 2 und Art. 11 Abs. 1 HEntfÜ; E. 1).


Das HEntfÜ geht davon aus, dass die Wiederherstellung des status quo ante dem Kindeswohl am ehesten entspricht. Weil jedoch das Wohlbefinden der Kinder im Mittelpunkt steht, sieht das Übereinkommen gewisse Gründe vor, die einer Rückgabe entgegen stehen können. Die Aufzählung der Verweigerungsgründe ist jedoch abschliessend und die Verweigerungsgründe sind zwingend restriktiv auszulegen (Art. 12 Abs.1 und Abs. 2, Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 sowie Art. 20 HEntfÜ; E. 3.1).


Praxisgemäss ist auf Grund einer sämtliche Umstände erfassenden Würdigung der Äusserungen des betroffenen Kindes zu beurteilen, ob seinem Widerstand Rechnung zu tragen und von der Anordnung seiner Rückführung in das Herkunftsland abzusehen ist. Grundsätzlich sollten nur solche Widerstandsgründe berücksichtigt werden, die in einer Aversion gegen den Herkunftsstaat an sich liegen und nicht bloss in einer solchen gegen die Person des Antragstellers. Es ist darauf achten, dass die Frage der Rückführung bei einer Kindesanhörung nicht auf die Frage reduziert wird, bei welchem Elternteil das Kind lieber leben möchte, da es beim Rückführungsentscheid weder um einen Sorgerechts- noch um einen Obhutsentscheid geht (Art. 13 Abs. 2 HEntfÜ; E 3.2).


Bei der Anwendung des HEntfÜ entspricht dem mutmasslichen Kindeswohl in erster Linie die sofortige Rückgabe widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbrachter oder dort zurückgehaltener Kinder. Nur unter bestimmten und eng eingegrenzten Voraussetzungen ist von einer Rückgabe abzusehen. Es ist aber unzulässig, den Antrag auf Rückführung eines Kindes aus allgemeinen Kindeswohlüberlegungen abzuweisen (Art. 1, Art. 12 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 sowie Art. 20 HEntfÜ; E. 3.3).



Sachverhalt

Anlässlich der Scheidung zwischen J. B. und R. R. am 10. Oktober 2000 in M. wurde den Parteien das gemeinsame Sorgerecht über die beiden Kinder F., geboren am 3. Juni 1993, und M., geboren am 17. Februar 1999, sowie der Mutter die Obhut über die Kinder zugesprochen. Per 19. Mai 2006 verliess R. R. trotz Widerstands durch J. B. mit den beiden Kindern Frankreich und zog mit ihnen nach B.. Mit Gesuch vom 9. Mai 2007 verlangte J. B. die sofortige Rückführung der Kinder nach Frankreich. Mit Entscheid vom 13. Juni 2007 verfügte das Bezirksgerichtspräsidium A. die Abweisung des Begehrens von J. B. um Rückführung der Kinder F. und M. B.. Eine schriftliche Begründung dieser Verfügung liegt nicht vor.


Gegen diese Verfügung erhob J. B. mit Eingabe vom 22. Juni 2007 Beschwerde und stellte dabei folgende Rechtsbegehren: Es sei Ziffer 1 des angefochtenen Entscheides aufzuheben und es sei die unverzügliche Rückführung der Kinder der Parteien, F. B., geboren am 3. März (recte: 3. Juni) 1993, und M. B., geboren am 17. Februar 1999, an den Wohnsitz des Beschwerdeführers gerichtlich anzuordnen (Ziff. 1.1). Eventualiter sei Ziffer 1 des angefochtenen Entscheides aufzuheben und zur Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen (Ziff. 1.2). Es seien vom Beschwerdeführer keine Kosten zu erheben, eventualiter unter o/e Kostenfolge zu Lasten der Beschwerdegegnerin 2 (Ziff. 2).


In ihrer Beschwerdeantwort vom 2. Juli 2007 stellte die Beschwerdegegnerin 2 folgende Anträge: Es sei die Beschwerde vollumfänglich abzuweisen (Ziff. 1); dies unter Kosten- und Entschädigungsfolge zu Lasten des Beschwerdeführers (Ziff. 2). Ausserdem sei der Beschwerdegegnerin 2 auch für das zweitinstanzliche Verfahren der Kostenerlass zu bewilligen.


Die Vorinstanz beantragte in ihrer Stellungnahme vom 6. Juli 2007 die Abweisung der Beschwerde und die Bestätigung der angefochtenen Verfügung.



Erwägungen

1. Der menschliche Schaden, der durch eine grenzüberschreitende Kindesentführung angerichtet wird, soll möglichst gering gehalten werden. Deshalb gilt es, das Kind so rasch wie möglich in die vertraute Umgebung zurückzuführen, aus der es durch die Entführung gerissen worden ist. Bei der Bekämpfung von grenzüberschreitenden Kindesentführungen durch einen Elternteil ist das Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HEntfÜ) vom 25. Oktober 1980 das wichtigste Instrument. Sowohl die Schweiz als auch Frankreich gehören zu den Unterzeichnerstaaten. Das HEntfÜ stellt eine Art administrative Rechtshilfe für den Fall von Kindesentführungen zur Verfügung (BGE 123 II 421 E. 1a). Daneben spielen beim HEntfÜ aber auch generalpräventive Aspekte eine Rolle. Das Übereinkommen soll gewährleisten, dass sich Kindesentführung nicht lohnt. Das beschriebene Spannungsfeld zwischen Kindeswohl und Generalprävention verlangt nach einem raschen Verfahren. In Art. 2 HEntfÜ ist eine Aufforderung an die Vertragsstaaten zu erblicken, die jeweils zügigste Verfahrensform für den Rückgabeentscheid bereitzustellen. In Art. 11 Abs. 1 HEntfÜ wiederum ist ein Beschleunigungsgebot niedergelegt mit Geltung für alle Behörden, die mit einem Antrag um Rückgabe befasst sind. Einige Kantone haben daher den Rückgabeprozess dem summarischen Verfahren zugeteilt. Diesem Beschleunigungsgebot darf allerdings der zusätzliche Rechtsschutz, welcher durch die Möglichkeit eines Instanzenzugs geboten ist, nicht zum Opfer fallen. Rechtsvergleichend sind in Deutschland mit einer Beschränkung der Rechtsmittel auf die „einmalige sofortige Beschwerde" die Konsequenzen aus dem Beschleunigungsgebot gezogen worden ( Alexander R. Markus , Beschleunigungsgebot und Berufungsfähigkeit bei Kinder-Rückgabeentscheiden nach Haager Übereinkommen, in: Aktuelle Juristische Praxis [AJP] 9/1997 S. 1085 f.). Im Kanton Basel-Landschaft gibt es keine Bestimmungen, welche den kantonalen Instanzenzug betreffend die Anwendung des HEntfÜ normieren würden. Angesichts des Beschleunigungsgebotes einerseits und unter Berücksichtigung des Rechtsschutzinteresses der Parteien andererseits rechtfertigt es sich daher nach Ansicht des Kantonsgerichts, diese (echte) Lücke zu füllen und den Parteien die Möglichkeit eines Rechtsmittels zuzugestehen, dieses Rechtsmittel jedoch auf die (ausserordentliche) Beschwerde zu beschränken (entsprechend beispielsweise auch dem Gesuch um eine vorsorgliche Massnahme, wogegen bei Abweisung praxisgemäss ebenfalls die Beschwerde möglich ist). (…)


2.1 - 2.3 ( … )


3.1 Das HEntfÜ hat unter anderem zum Ziel, die sofortige Rückgabe widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbrachter oder dort zurückgehaltener Kinder sicherzustellen (Art. 1 lit. a HEntfÜ). Es geht davon aus, dass die Wiederherstellung des status quo ante dem Kindeswohl am ehesten entspricht. Als widerrechtlich gilt das Wegbringen oder Zurückhalten eines Kindes, wenn dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das einer Person allein oder gemeinsam nach dem Recht des Staates zusteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Wegbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (Art. 3 Abs. 1 lit. a HEntfÜ). Ist ein Kind im Sinne dieser Bestimmung widerrechtlich weggebracht oder zurückgehalten worden und ist bei Eingang des Antrags bei dem Gericht oder der Verwaltungsbehörde des Vertragsstaates, in dem sich das Kind befindet, eine Frist von weniger als einem Jahr seit dem Wegbringen oder Zurückhalten verstrichen, so wird die sofortige Rückgabe des Kindes angeordnet (Art. 12 Abs. 1 HEntfÜ).


Im vorliegenden Fall steht fest und wird von den Parteien nicht bestritten, dass beide Elternteile das Sorgerecht über die beiden Kinder tatsächlich gemeinsam ausgeübt haben, dass die Kinder vor der Entführung ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Frankreich gehabt haben, dass die Mutter sie demnach in Verletzung des gemeinsamen Sorgerechts widerrechtlich in die Schweiz verbracht hat, dass beide Kinder jünger als 16 Jahre alt sind und dass die Jahresfrist für das Rückführungsgesuch eingehalten worden ist. Dies hat zur Konsequenz, dass gestützt auf das HEntfÜ die beiden Kinder grundsätzlich sofort nach Frankreich zurück zu bringen sind (Art. 12 Abs. 1 HEntfÜ). Die Ansicht der Vorinstanz, es sei fraglich, ob es sich vorliegend überhaupt um einen Anwendungsfall des HEntfÜ handle, ist zurück zu weisen, da weder die geographische Entfernung noch das nach wie vor mögliche Besuchsrecht des Vaters etwas daran ändern, dass die Mutter die beiden Kinder widerrechtlich in die Schweiz verbracht hat. Weil jedoch das Wohlbefinden der Kinder im Mittelpunkt steht, sieht das Übereinkommen gewisse Gründe vor, die einer Rückgabe entgegen stehen können. Als Verweigerungsgründe zur Rückgabe des entführten Kindes kommen aber ausschliesslich folgende in Betracht:


- Der Antrag stellende Elternteil hat sein Sorgerecht zum Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens tatsächlich nicht ausgeübt (Art. 3 Abs. 1 lit. b in Verbindung mit Art. 13 Abs. 1 lit. a HEntfÜ);


- der Antrag stellende Elternteil hat dem Verbringen oder Zurückhalten zugestimmt oder dieses nachträglich genehmigt (Art. 13 Abs. 1 lit. a HEntfÜ);


- die Rückkehr ist mit einer schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden oder sie bringt das Kind auf eine andere Weise in eine unzumutbare Lage (Art. 13 Abs. 1 lit. b HEntfÜ);


- das Kind selbst widersetzt sich der Rückgabe und hat dabei ein Alter und eine Reife erreicht, angesichts deren es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen (Art. 13 Abs. 2 HEntfÜ);


- die Rückführung ist nach den im ersuchten Staat geltenden Grundwerten über den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten unzulässig (ordre public, Art. 20 HEntfÜ);


- das Kind hat sich in seine neue Umgebung eingelebt (Art. 12 Abs. 1 und Abs. 2 HEntfÜ).


Die Aufzählung der Verweigerungsgründe von Art. 12, Art. 13 und Art. 20 HEntfÜ ist abschliessend. Da die Verweigerungsgründe an und für sich dem Hauptziel des HEntfÜ, nämlich einer raschen Wiederherstellung des status quo ante, entgegenwirken, sind sie aus rechtssystematischen und teleologischen Gründen zwingend restriktiv auszulegen. Das HEntfÜ darf nicht durch eine extensive Zulassung von Verweigerungsgründen ausgehöhlt werden (vgl. zum Ganzen Carla Schmid , Neuere Entwicklungen im Bereich der internationalen Kindesentführungen, Eine Analyse der schweizerischen Rechtsprechung zum Haager Kindesentführungsübereinkommen von 1998 - 2002, in: AJP 11/2002 S. 1325 ff. [S. 1330], mit zahlreichen Hinweisen). Hinsichtlich der Beweislast, ob ein Verweigerungsgrund vorliegt, sind vom entführenden Elternteil die Nichtausübung des Sorgerechts (die tatsächliche Ausübung wird vermutet), die Zustimmung zur Ausreise oder zum Verbleib sowie das Vorliegen einer schweren Gefahr für das Kind nachzuweisen. Von Amtes wegen zu berücksichtigen sind die Meinung des Kindes, sofern dieses in Bezug auf die Frage der Rückführung als urteilsfähig erachtet werden kann, sowie eine Verletzung des ordre public. Umstritten ist, ob das Gericht ebenfalls von Amtes wegen abzuklären hat, ob sich das Kind nach Ablauf der Jahresfrist in seine neue Umgebung eingelebt hat. Konsequenterweise ist dieser Nachweis aber vom entführenden Elternteil zu erbringen, weil nach dem Wortlaut von Art. 12 Abs. 2 HEntfÜ eine Rückführung grundsätzlich auch nach Ablauf der Jahresfrist anzuordnen ist. Die Verweigerungsgründe sind angesichts des schnellstmöglichen Verfahrens anhand objektiver Anhaltspunkte glaubhaft zu machen ( Schmid , a.a.O., S. 1331).


3.2 Im vorliegenden Fall spielt die allfällige Einlebung der Kinder in ihre neue Umgebung von vornherein keine Rolle, da dieser Verweigerungsgrund erst nach Ablauf der Jahresfrist möglich ist, was in casu unbestrittenermassen nicht zutrifft. Soweit sich also der Wunsch der Kinder auf Verbleib in der Schweiz mit den aktuellen Lebensumständen begründet, sind die in diesem Zusammenhang getätigten Aussagen der Kinder nicht zu beachten (vgl. BGE 131 III 338 E. 3.2). Nicht geltend gemacht wird von der Beschwerdegegnerin 2, dass der Vater sein Sorgerecht nicht ausgeübt habe, dass er dem Verbringen zugestimmt oder dieses nachträglich genehmigt habe oder dass die Rückkehr mit einer schwerwiegenden Gefahr verbunden wäre oder die Kinder auf eine andere Weise in eine unzumutbare Lage bringen würde; ebenfalls nicht ersichtlich ist eine Verletzung des ordre public. Somit bleibt einzig die Frage offen, ob sich die beiden Kinder der Rückgabe widersetzen.


Gemäss der Praxis ist letztlich auf Grund einer sämtliche Umstände erfassenden Würdigung der Äusserungen des betroffenen Kindes zu beurteilen, ob im Sinne von Art. 13 Abs. 2 HEntfÜ seinem Widerstand Rechnung zu tragen und von der Anordnung seiner Rückführung in das Herkunftsland abzusehen ist. Es ist zu prüfen, ob das urteilsfähige Kind sich einer Rückführung aus freien Stücken, d.h. unbeeinflusst durch den entführenden Elternteil widersetzt. In welchem Alter das Kind die für eine möglichst autonome Willensbildung erforderliche Reife erlangt, lässt sich nicht allgemein bestimmen. Vor ein paar Jahren wurde die notwendige Reife in der Regel noch ab dem 14. Altersjahr angenommen. Seit einiger Zeit wird in der Rechtsprechung vermehrt auch die Meinung jüngerer Kinder berücksichtigt, frühestens aber ab dem 10. Altersjahr. Es ist auf jeden Fall davon auszugehen, dass je näher sich das Kind bei der für die Anwendung des Übereinkommens geltenden Altersgrenze von 16 Jahren (Art. 4 HEntfÜ) befindet, um so eher anzunehmen ist, es verfüge über die nötige Reife, in eigener Verantwortung, möglichst unbeeinflusst vom entführenden Elternteil zu entscheiden, und es sich um so eher rechtfertigt, auf die Meinung des Kindes massgeblich abzustellen (BGE 131 III 339 E. 5.1 f., mit zahlreichen Hinweisen).


Grundsätzlich sollten nur solche Widerstandsgründe berücksichtigt werden, die in einer Aversion gegen den Herkunftsstaat an sich liegen wie beispielsweise Schule, Essen, Spielgelegenheiten oder Sprache und nicht bloss in einer solchen gegen die Person des Antragstellers ( Raphaela Zürcher , Kindesentführung und Kindesrechte, Zürich, 2005, S. 194 f.). Grundsätzlich muss das Gericht darauf achten, dass die Frage der Rückführung bei einer Kindesanhörung nicht auf die Frage reduziert wird, bei welchem Elternteil das Kind lieber leben möchte. Der Anwendungsbereich von Art. 13 Abs. 2 HEntfÜ sollte so beschränkt werden, dass nur der Widerstand des Kindes, der ausschliesslich aus sachbezogenen Umständen resultiert, berücksichtigt wird, da personenbezogene Umstände schon von Art. 13 Abs. 1 HEntfÜ hinreichend abgedeckt sind ( Zürcher , a.a.O., S. 197). Es dürfte regelmässig äusserst fraglich sein, ob sich das Kind bewusst ist, dass es sich nicht zur Obhutsfrage, sondern zu einer allfälligen Rückführung in den Herkunftsstaat zu äussern hat, wo das zuständige Gericht über das Sorgerecht zu befinden hat ( Zürcher , a.a.O., S. 199). Das betroffene Kind muss den Unterschied zwischen der vorläufigen Rückgabeentscheidung und der dauerhaften Sorgerechtsentscheidung kennen, damit es eine Stellungnahme zur Rückführung abgeben kann ( Zürcher , a.a.O., S. 201). Hat nun das Kind die nötige Reife und das Alter erreicht, dann kann von einer verantwortungsbewussten Entscheidung des Gerichtes bezüglich der Anhörung des Kindes ausgegangen werden, wenn sich das Kind mit Nachdruck der Rückkehr widersetzt; es sei denn, die Ansicht des Kindes sei erkennbar massgeblich durch den entführenden Elternteil beeinflusst worden ( Zürcher , a.a.O., S. 205). Eine völlig unbeeinflusste Willensbildung wird es allerdings kaum je geben, weshalb es für die Rückführungsbehörde regelmässig darum geht, den zwar unter dem Einfluss des entführenden Elternteils entstandenen, aber dennoch beachtlichen Willen von dem unbeachtlichen, allenfalls manipulierten Kindeswillen abzugrenzen. Entscheidend ist somit einerseits, dass Willensäusserungen immer eine aktive Leistung des Kindes voraussetzen und daher keineswegs aus den kontextuellen Einflüssen allein erklärbar sind. Andererseits zählen auch emotionale Äusserungen wie z.B. Weinen zu den Komponenten einer Willensäusserung, die das Gericht nicht ignorieren darf ( Zürcher , a.a.O., S. 206 f.). Nicht zu übersehen ist trotz allem, dass es sich bei Art. 13 Abs. 2 HEntfÜ um eine „Kann-Vorschrift" handelt.


In casu sind die beiden Kinder 14-jährig (F.) bzw. 8-jährig (M.). Gemäss der zitierten Praxis des Bundesgerichts kann bereits aus Altersgründen auf die Meinung von M. nicht abgestellt werden (abgesehen davon, dass es für ihn keine Rolle spiele, ob er in der Schweiz oder in Frankreich sei, solange er mit seiner Mutter und seiner Schwester zusammenbleiben könne). Demgegenüber sind keine Gründe ersichtlich, wonach F. nicht über die nötige Reife und eine entsprechende eigene Meinung verfüge würde, weshalb ihre Äusserungen grundsätzlich zu berücksichtigen sind. Die Vorinstanz hörte F. am 23. Mai 2007 persönlich und ohne Beisein ihrer Eltern an. Aus dem entsprechenden Anhörungsprotokoll geht zusammenfassend hervor, dass sich F. an ihrem neuen Wohnort in B. wohl fühle, es ihr insgesamt in der Schweiz gut gehe und sie lieber bei der Mutter wohnen wolle. Nicht zum Ausdruck gebracht werden jedoch ernsthafte und nachvollziehbare Gründe oder sonstige Willensäusserungen, woraus sich eine Aversion gegen Frankreich und ein eigentliches Widersetzen gegen die Rückführung nach Frankreich ableiten liesse. Nachdem die Verweigerungsgründe zwingend restriktiv auszulegen sind, ist eine klare Grenze zu ziehen zwischen einem eigentlichen Widersetzen und einer blossen Willenskundgabe, wo es einem besser gefällt. Aufgrund des Anhörungsprotokolls muss davon ausgegangen werden, dass sich F. lediglich dahingehend geäussert hat, dass sie sich in der Schweiz gut eingelebt habe; dieser Verweigerungsgrund (Art. 12 Abs. 2 HEntfÜ) ist aber wie bereits erwähnt vorliegend irrelevant. Auch dass sie lieber bei der Mutter wohne, spricht nicht gegen eine Rückführung, da es im vorliegenden Verfahren weder um einen Sorgerechts- noch um einen Obhutsentscheid geht. Zu bemängeln ist in diesem Zusammenhang, dass bei der Anhörung offenbar die Frage der Rückführung mit der Frage der Obhut vermischt wurde, wenngleich natürlich nicht zu verkennen ist, dass es für ein Kind sehr schwierig ist, Motive allgemeiner Natur gegen eine Rückkehr ins Herkunftsland von Motiven auseinander zu halten, die gegen eine Rückkehr zum dort lebenden Elternteil sprechen. Es ist des Weiteren verständlich, dass es den Kindern nicht leicht fällt, aus der neu eingelebten Umgebung wieder wegziehen zu müssen. Abgesehen davon, dass dies aber genauso Kinder trifft, deren Eltern beispielsweise aus beruflichen Gründen häufiger den Wohnort wechseln, ist festzuhalten, dass vorliegend für diesen Umstand allein der entführende Elternteil durch seine eigenmächtige Handlungsweise die Verantwortung trägt, was bedeutet, dass demnach die Mutter nicht nur für das widerrechtliche Verbringen der Kinder verantwortlich ist, sondern auch für die erneute Entwurzelung der Kinder in der Schweiz nach dem Rückführungsentscheid.


3.3 Es steht ausser Frage, dass das Wohl des Kindes bei der Anwendung des HEntfÜ von vorrangiger Bedeutung ist, wie dies in der Präambel festgehalten und von den Beschwerdegegnerinnen geltend gemacht wird. Allerdings ergibt sich - abgesehen davon, dass die Präambel keine eigenständige Bedeutung hat - aus dem Übereinkommen selbst, was nach Ansicht der Unterzeichnerstaaten unter dem Wohl des Kindes zu verstehen ist. Primär geht es demnach darum, die sofortige Rückgabe widerrechtlich in einen Vertragsstaat verbrachter oder dort zurückgehaltener Kinder sicherzustellen (Art. 1 HEntfÜ); dies entspricht in erster Linie dem mutmasslichen Kindeswohl. Unter bestimmten und eng eingegrenzten Voraussetzungen (Art. 12, Art. 13 und Art. 20 HEntfÜ) kann es dem Kindeswohl mehr entsprechen, wenn von einer Rückgabe abgesehen wird. Es ist aber unzulässig, den Antrag auf Rückführung eines Kindes aus allgemeinen Kindeswohlüberlegungen abzuweisen (vgl. Franziska Abt , Der Ordre public-Vorbehalt des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführungen, in: AJP 9/1997 S. 1084). Liegen also die genannten Ausnahmen nicht vor, entspricht wiederum die Rückgabe des Kindes dem primären Kindeswohl, weshalb es willkürlich ist, wenn entgegen der klaren Zielsetzung des Übereinkommens die Rückgabe unter Verweis auf nicht zulässige allgemeine Kindeswohlüberlegungen verweigert wird. Im vorliegenden Fall ist klar festzustellen, dass in Anwendung des HEntfÜ keine Gründe ersichtlich sind, welche gegen eine Rückführung sprechen, womit die Abweisung des Gesuchs um Rückgabe als willkürlich zu qualifizieren ist. Es ist an dieser Stelle nochmals ausdrücklich zu betonen, dass in einem Kindesentführungsfall die Priorität in der Rückführung liegt und es in Anwendung des HEntfÜ um einen raschen Rechtsschutz im Sinne einer Wiederherstellung des status quo ante geht ( Zürcher , a.a.O. S. 198; Schmid , a.a.O., S. 1334); ausserdem das Übereinkommen seine präventive Wirkung nur entfalten kann, wenn Entführungen grundsätzlich nicht folgenlos bleiben und das Recht nicht vor der Eigenmacht kapituliert. Für das Kantonsgericht ist in diesem Zusammenhang im Übrigen nicht ersichtlich, inwiefern dem Gesuchsteller eine rechtsmissbräuchliche Handlungsweise zu unterstellen wäre, wie dies von der Beschwerdegegnerin 2 ins Feld geführt wird.


( … )


Demzufolge ist in Gutheissung der Beschwerde die angefochtene Verfügung des Bezirksgerichts A. vom 13. Juni 2007 aufzuheben und die Beschwerdegegnerin 2 ist anzuweisen, die beiden Kinder F. und M. unverzüglich, spätestens jedoch bis zum 18. Oktober 2007, auf ihre Kosten nach Frankreich zurück zu bringen. Sollte sie dies bis zum verfügten Termin nicht getan haben, hat sie dem Beschwerdeführer auf erstes Verlangen zur Rückführung hin die beiden Kinder herauszugeben; dies unter Androhung von Zwangsvollstreckung und Bestrafung wegen Ungehorsams gegen eine amtliche Verfügung im Sinne von Art. 292 StGB (Bestrafung mit Busse bis 10'000.-- Franken) im Widerhandlungsfalle.


4. ( … )


KGE ZS vom 4. September 2007 i. S. J. B. / BGP A. und R. R. (200 07 544 [D 101]/NEP)



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