Alters- und Hinterlassenenversicherung

Verjährung der Schadenersatzforderung der Ausgleichskasse


Auf Schadenersatzansprüche der Ausgleichskasse, die am 1. Januar 2003 noch nicht verwirkt waren, gelangen die auf diesen Zeitpunkt in Kraft getretenen Verjährungsregeln des Art. 52 Abs. 3 AHVG zur Anwendung, wonach der Schadenersatzanspruch der Ausgleichskasse nach Ablauf von zwei Jahren verjährt (E. 2.2).


Bei den in Art. 52 Abs. 3 AHVG statuierten Fristen handelt es sich um Verjährungsfristen, deren Eintritt - im Gegensatz zur Verwirkungsfrist - nicht von Amtes wegen berücksichtigt werden darf (E. 2.3).


Ist dem Konkurs der beitragspflichtigen Arbeitgeberin ein Nachlassverfahren vorausgegangen und wird dieses Verfahren widerrufen oder die Bestätigung eines Nachlassvertrages verweigert, ergeht ein Aufruf an die Gläubigerinnen und Gläubiger und der Entscheid wird überdies öffentlich bekannt gemacht. Dadurch wird auf die mögliche Zahlungsunfähigkeit der Arbeitgeberin und folglich auf das erhöhte Verlustrisiko für die Ausgleichskasse hingewiesen. Unter solchen Umständen muss von der Ausgleichskasse verlangt werden, dass sie von sich aus entsprechende Informationen einholt, um ihr Verlustrisiko abschätzen und die zur Wahrung ihrer Ansprüche notwendigen Schritte unternehmen zu können (E. 3.1).


Die Ausgleichskasse hätte nach der Publikation des Nichtzustandekommens des Nachlassvertrages im Amtsblatt, spätestens aber nach der im September 2002 erfolgten Konkurseröffnung auf das Scheitern des Nachlassverfahrens aufmerksam werden müssen. Mittels Einsichtnahme in die massgeblichen Akten hätte sie in der Folge feststellen können, dass ihre Forderung durch die Konkursdividende sehr wahrscheinlich nicht voll gedeckt sein würde, weshalb sie bereits im Verlaufe des Herbsts 2002 ausreichende Kenntnis ihres Schadens hatte (E. 4).



Sachverhalt

Im September 2002 war über die L. AG der Konkurs eröffnet worden. In der Folge verlangte die Ausgleichskasse Basel-Landschaft (Ausgleichskasse) von den beiden Verwaltungsräten X. und Y., gestützt auf Art. 52 Abs. 1 und 2 AHVG mit Verfügungen vom jeweils 27. September 2005 den Ersatz des ihr entstandenen Schadens. Mit Schreiben vom 26. bzw. 28. Oktober 2005 erhoben X. und Y. gegen die Schadenersatzverfügungen jeweils Einsprache bei der Ausgleichskasse, welche diese mit Entscheiden vom jeweils 19. Juli 2006 abwies. Zur Begründung wurde zunächst darauf hingewiesen, dass die L. AG in den Jahren 1999 bis 2001 ihre Beitragspflichten verletzt habe. Aufgrund der gesamten Umstände müsse zudem davon ausgegangen werden, dass diese ein Verschulden "…mindestens im Umfang grober Fahrlässigkeit…" treffe und dass keine Umstände ersichtlich seien, die das fehlerhafte Verhalten als gerechtfertigt erscheinen liessen. Im Weiteren hätten X. und Y. als verantwortliche Organe der Gesellschaft die ihnen obliegenden Sorgfaltspflichten in einer Weise verletzt, die als grobfahrlässig und schuldhaft bezeichnet werden müsse.


Gegen die Einspracheentscheide erhoben X. und Y. mit Schreiben vom 8. bzw. 14. September 2006 Beschwerde beim Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsgericht (Kantonsgericht) und beantragten die Aufhebung derselben. X. brachte zur Begründung unter anderem vor, dass die Ausgleichskasse den Beweis seines Verschuldens am geltend gemachten Schaden nicht erbracht habe. Y. seinerseits führte insbesondere aus, dass sich die angefochtene Schadenersatzverfügung auf Forderungen beziehe, welche vor dem Inkrafttreten des Allgemeinen Teils des Sozialversicherungsrechts am 1. Januar 2003 festgesetzt worden seien. Deshalb gelange die bis Ende 2002 geltende Regelung zur Anwendung, wonach die Ausgleichskasse ihren Schadenersatzanspruch innerhalb eines Jahres nach Kenntnis des Schadens geltend machen müsse. Allerspätestens im Februar 2004 - als die L. AG von Amtes wegen gelöscht worden war, weil die Gesellschaft über keine verwertbaren Aktiven mehr verfügte - habe die Ausgleichskasse wissen müssen, dass sie einen Totalverlust erleiden werde. Die erst mit Verfügung vom 27. September 2005 geltend gemachte Schadenersatzforderung sei deshalb verwirkt. In ihren Vernehmlassungen vom jeweils 13. Oktober 2006 beantragte die Ausgleichskasse dem Kantonsgericht die Abweisung der beiden Beschwerden.


Anlässlich der heutigen Parteiverhandlung hält der Rechtsvertreter von Y. - in Ergänzung zu der in der Beschwerde vom 14. September 2006 enthaltenen Begründung - fest, dass das der L. AG Ende Februar 2002 bewilligte Nachlassverfahren im Herbst 2002 abgeschrieben worden sei. Bereits in diesem Zeitpunkt habe die Ausgleichskasse von ihrem Schaden Kenntnis haben müssen, da die Abteilung Zivil- und Strafrecht des Kantonsgerichts in ihrem Beschluss vom August 2002 darauf hingewiesen habe, dass die Massaverbindlichkeiten und Gläubigerforderungen durch die Aktiven bei Weitem nicht gedeckt seien. Somit sei die geltend gemachte Schadenersatzforderung auf jeden Fall verjährt. Die Rechtsvertreterin von X. schliesst sich der Verjährungseinrede von Y. an.



Erwägungen

1. (…)


2.1 Strittig und zu prüfen ist zunächst, innerhalb welcher Frist der den Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens bildende, gegenüber den beiden Beschwerdeführern mit Verfügungen vom jeweils 27. September 2005 geltend gemachte Schadenersatzanspruch (…) verjährt bzw. verwirkt. Y. vertritt in seiner Beschwerde vom 14. September 2006 die Ansicht, dass sich die angefochtenen Verfügungen auf Beitragsforderungen beziehen würden, die vor dem 1. Januar 2003 festgesetzt worden seien. Im Gegensatz zur Ausgleichskasse gelangt er deshalb zum Schluss, dass deren Anspruch innerhalb eines Jahres nach Kenntnis des Schadens verwirkt.


2.2 In der Tat verjährte gemäss dem bis zum 31. Dezember 2002 gültigen Art. 82 Abs. 1 AHVV die Schadenersatzforderung der Ausgleichskasse, wenn sie nicht innert Jahresfrist seit Kenntnis des Schadens durch Erlass einer Schadenersatzverfügung geltend gemacht wurde. Neben dieser relativen Frist statuierte der Gesetzgeber gleichzeitig eine absolute Verjährungsfrist von fünf Jahren seit Eintritt des Schadens. Nach der Rechtsprechung handelte es sich dabei - entgegen dem Wortlaut - um Verwirkungsfristen (BGE 128 V 12 E. 5a, 17 E. 2a, je mit Hinweisen). Mit dem Inkrafttreten des ATSG wurde die relative Verjährungsfrist erhöht. Gemäss dem seit dem 1. Januar 2003 geltenden Art. 52 Abs. 3 AHVG verjährt der Schadenersatzanspruch nunmehr zwei Jahre nachdem die zuständige Ausgleichskasse vom Schaden Kenntnis erhalten hat. Wie das EVG (seit dem 1. Januar 2007 Schweizerisches Bundesgericht, Abteilung Sozialversicherungsrecht) in seinem Urteil vom 27. September 2005 erkannt hat, gelangen auf Schadenersatzansprüche, die am 1. Januar 2003 noch nicht verwirkt waren, die auf diesen Zeitpunkt in Kraft getretenen Verjährungsregeln des Art. 52 Abs. 3 AHVG zur Anwendung (BGE 131 V 429 f. E. 5.2).


Aus dem vorliegenden Sachverhalt wird ohne Weiteres ersichtlich, dass die strittigen Schadenersatzansprüche zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des ATSG noch nicht verwirkt waren, sodass diese innerhalb von zwei Jahren verjähren.


2.3 Bei den in Art. 52 Abs. 3 AHVG statuierten Fristen handelt es sich, wie das EVG bereits wiederholt und unter Hinweis auf den Gesetzeswortlaut sowie die Materialien entschieden hat, nicht mehr um Verwirkungs-, sondern um Verjährungsfristen (Urteil F. des EVG vom 30. November 2004 [H 96/03] E. 5.1; BGE 131 V 427 E. 3.1). Diese können denn auch unterbrochen werden und der Arbeitgeber kann auf die Einrede der Verjährung verzichten (Art. 52 Abs. 3 Sätze 2 und 3 AHVG). Dem Charakter der Verjährungsfrist ist gleichzeitig inhärent, dass ihr Eintritt - im Gegensatz zur Verwirkungsfrist - nicht von Amtes wegen berücksichtigt werden darf (vgl. Art. 142 OR).


Vorliegend haben beide Beschwerdeführer im Rahmen der heutigen Parteiverhandlung die Einrede der Verjährung erhoben, sodass das Kantonsgericht zu prüfen hat, ob die strittigen, mit Verfügungen vom 27. September 2005 geltend gemachten Schadenersatzforderungen verjährt sind.


3.1 Wie bereits dargelegt wurde, verjährt der Schadenersatzanspruch zwei Jahre nachdem die zuständige Ausgleichskasse vom Schaden Kenntnis erhalten hat. Nach der Rechtsprechung des EVG ist Kenntnis des Schadens im Sinne der genannten Bestimmung von dem Zeitpunkt an gegeben, in welchem die Ausgleichskasse unter Beachtung der ihr zumutbaren Aufmerksamkeit und unter Berücksichtigung der Praxis erkennen muss, dass die tatsächlichen Gegebenheiten es nicht mehr erlauben, die Beiträge einzufordern, wohl aber eine Schadenersatzpflicht begründen können (BGE 131 V 427 E. 3.1 sowie BGE 119 V 92 E. 3). Dabei wird von der Ausgleichskasse verlangt, dass sie von dem Zeitpunkt an, in dem sie alle tatsächlichen Umstände über die Existenz, die Beschaffenheit und die wesentlichen Merkmale des Schadens kennt, sich über die Einzelheiten eines allfälligen Schadenersatzanspruchs informiert. Im Falle eines Konkurses hat die Ausgleichskasse praxisgemäss bereits dann ausreichende Kenntnis des Schadens, wenn die Kollokation der Forderungen eröffnet bzw. der Kollokationsplan (und das Inventar) zur Einsicht aufgelegt wird. In diesem Zeitpunkt ist sie im Allgemeinen in der Lage, den Stand der Aktiven, die Kollokation ihrer Forderung und die voraussichtliche Dividende zu kennen (vgl. BGE 126 V 446 f. E. 4b mit Hinweis auf BGE 119 V 92 f. E. 3).


Ist dem Konkurs ein Nachlassverfahren vorausgegangen und wird dieses Verfahren widerrufen oder die Bestätigung eines Nachlassvertrages verweigert, ergeht ein Aufruf an die Gläubigerinnen und Gläubiger und der Entscheid wird zudem öffentlich bekannt gemacht. Dadurch wird auf die mögliche Zahlungsunfähigkeit und folglich auf das erhöhte Verlustrisiko für die Ausgleichskasse hingewiesen. Unter solchen Umständen muss von der Ausgleichskasse verlangt werden, dass sie von sich aus entsprechende Informationen einholt, um ihr Verlustrisiko abschätzen und die zur Wahrung ihrer Ansprüche notwendigen Schritte unternehmen zu können (vgl. Urteil Eishockey-Club X. vom 15. September 2004 [H 34/04] E. 5.1 mit Hinweis auf BGE 128 V 17 E. 2a; Urteil T.X. des EVG vom 1. Februar 1995 in: AHI-Praxis 1995, S. 163 f. E. 4c).


3.2 Vorliegend ist unbestritten, dass das Obergericht des Kantons Basel-Landschaft (seit dem 1. April 2002 Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Zivil- und Strafrecht) der L. AG im Februar 2002 für sechs Monate die Nachlassstundung bewilligt und gleichzeitig einen Sachwalter eingesetzt hatte. Dieser hatte mit Schreiben vom 13. August 2002 den Widerruf der Nachlassstundung beantragt, weil sich aus der Vermögenslage der L. AG ergebe, dass die Massaverbindlichkeiten und die privilegierten Forderungen durch die Aktiven bei Weitem nicht gedeckt seien und es daher klar ausgeschlossen sei, dass ein Nachlassvertrag zustande komme. In der Folge stellte das Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Zivil- und Strafrecht, im August 2002 fest, dass innert der Nachlassstundung kein Nachlassvertrag zustande gekommen sei und das Verfahren als erledigt abgeschrieben werde.


3.3 Dieser Beschluss über das Nichtzustandekommen des Nachlassvertrages wurde im September 2002 im Amtsblatt publiziert. In Anbetracht der in Ziffer 3.1 hievor gemachten Ausführungen weisen die Beschwerdeführer heute zu Recht darauf hin, dass die Ausgleichskasse aufgrund dieser Mitteilung hätte veranlasst sein müssen, Informationen darüber einzuholen, weshalb innerhalb der Nachlassstundung kein Nachlassvertrag zustande gekommen war. Dabei hätte sie insbesondere Ziffer II der Erwägungen des Beschlusses des Kantonsgerichts Basel-Landschaft, Abteilung Zivil- und Strafrecht, vom August 2002 entnehmen können, dass (…) ihre dem Sachwalter gemeldete Forderung (…) zu einem überwiegenden Teil nicht gedeckt war. In Beachtung der ihr zumutbaren Aufmerksamkeit hätte sie deshalb bereits im September 2002 erstmals erkennen können, dass ihr aus der Vernachlässigung der Beitragszahlungspflichten der L. AG ein Schaden entstehen wird.


4. Somit ist festzuhalten, dass die Ausgleichskasse nach der Publikation des Nichtzustandekommens des Nachlassvertrages im Amtsblatt, spätestens aber nach der im September 2002 erfolgten Konkurseröffnung auf das Scheitern des Nachlassverfahrens hätte aufmerksam werden müssen. Mittels Einsichtnahme in die massgeblichen Akten hätte sie in der Folge feststellen können, dass ihre Forderung durch die Konkursdividende sehr wahrscheinlich nicht voll gedeckt sein würde. Demzufolge hätte sie bereits im Verlaufe des Herbsts 2002 ausreichende Kenntnis ihres Schadens haben können, weshalb ihr Schadenersatzanspruch im Zeitpunkt des Erlasses ihrer Verfügungen vom 27. September 2005 verjährt war. Die seitens der Beschwerdeführer erhobenen Verjährungseinreden sind somit zu Recht erfolgt, weshalb die vorliegend strittigen Schadenersatzansprüche der Ausgleichskasse abzuweisen sind.


Die Beschwerden vom 8. und 14. September 2006 werden dementsprechend gutgeheissen und die Einspracheentscheide der Ausgleichskasse vom 19. Juli 2006 sowie ihre Schadenersatzverfügungen vom 27. September 2005 aufgehoben.


5. (…)


KGE SV vom 28.3.2007 i.S. X. und Y. (710 06 270 und 273)



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