Strafrecht

Rechtsmittel gegen ablehnende Entscheide betreffend die Sistierung des Vollzugs einer Ersatzfreiheitsstrafe


In der Strafprozessordnung findet sich keine Regelung betreffend die Rechtsmittelmöglichkeit gegen einen ablehnenden Entscheid des Statthalteramts gemäss Art. 36 Abs. 3 StGB (Sistierung des Vollzugs der Ersatzfreiheitsstrafe in Verbindung mit der Anordnung einer Ersatzmassnahme). Diese Gesetzeslücke ist dahingehend zu füllen, dass die Bestimmungen des Einspracheverfahrens gemäss § 134 StPO i.V.m. § 3a Abs. 1 StPO analog anzuwenden sind und die Zuständigkeit beim Strafgericht liegt (Art. 36 Abs. 3 StGB, § 134 StPO, § 3a Abs. 1 StPO, E. 5).



Sachverhalt

Für die nachträgliche Änderung einer in Rechtskraft erwachsenen Geldstrafe, die in einem Strafbefehl ausgesprochenen wurde, ist gemäss Art. 36 Abs. 3 StGB das Bezirksstatthalteramt zuständig. Über die Frage, wer für die Beurteilung eines Rechtsmittels gegen einen derartigen Änderungsentscheid des Bezirksstatthalteramtes zuständig ist, gibt die Strafprozessordnung keine Auskunft. Das Bezirkstatthalteramt hat die Beschwerde zuständigkeitshalber an das Strafgericht verwiesen. Das Strafgericht erachtete hingegen das Kantonsgericht, Abteilung Zivil- und Strafrecht, als zuständig, weshalb es die Angelegenheit zur Beurteilung an das Kantonsgericht weitergeleitet hat. Das Kantonsgericht hat somit zunächst über seine Zuständigkeit zu befinden.



Erwägungen

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2.1 Die Vollzugsbehörde, d.h. im hiesigen Fall das Bezirksstatthalteramt, ist gemäss Art. 35 Abs. 1 StGB befugt, dem Verurteilten für die Begleichung einer Geldstrafe eine Zahlungsfrist von einem bis zu zwölf Monaten zu gewähren. Sie kann Ratenzahlungen anordnen und auf Gesuch die Fristen verlängern. Ferner kann diese Behörde die Betreibung der Geldstrafe anordnen, wenn davon ein Ergebnis zu erwarten ist (Art. 35 Abs. 3 StGB). Nach Art. 36 Abs. 1 StGB tritt an die Stelle der Geldstrafe die Freiheitsstrafe, soweit der Verurteilte die Geldstrafe nicht bezahlt und sie auf dem Betreibungsweg uneinbringlich ist. Kann der Verurteilte die Geldstrafe nicht bezahlen, weil sich ohne sein Verschulden die für die Bemessung des Tagessatzes massgebenden Verhältnisse seit dem Urteil erheblich verschlechtert haben, so kann er laut Art. 36 Abs. 3 StGB dem Gericht beantragen, den Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe zu sistieren und stattdessen die Zahlungsfrist bis zu 24 Monaten zu verlängern (lit. a), den Tagessatz herabzusetzen (lit. b) oder gemeinnützige Arbeit anzuordnen (lit. c). Art. 35 und Art. 36 Abs. 2 - 5 StGB werden auch auf den Vollzug und die Umwandlung von Bussen sinngemäss angewendet (Art. 106 Abs. 5 StGB). Wenn die beurteilte Person eine seit dem Urteil eingetretene Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse belegt, sind die Bezirksstatthalterämter somit befugt, die Busse unter Umständen in gemeinnützige Arbeit umzuwandeln.


2.2 Im vorliegenden Fall wurde der Strafbefehl des Bezirksstatthalteramtes dem Beurteilten am 2. November 2008 zugestellt, gegen den er mit Schreiben vom 6. November 2007 binnen der zehntägigen Frist gemäss § 134 StPO rechtzeitig Einsprache erhob. Als Begründung führte er an, dass er aus finanziellen Gründen nicht in der Lage sei, die ihm auferlegte Busse von € 700.00 zu bezahlen. Deshalb sei ihm die Busse zu erlassen. Im Schreiben vom 21. Dezember 2007 präzisierte er sein Begehren und beantragte, dass diese Busse in gemeinnützige Arbeit, die er in den Niederladen leisten wolle, umzuwandeln sei. Ausserdem konnte er anhand von Belegen über seine Einnahmen- und Ausgabensituation eine monatliche Unterdeckung von rund € 113.00 glaubhaft machen. In Anbetracht dieser zwei Eingaben ist davon auszugehen, dass der Beurteilte an seinem Antrag auf Bussenreduktion nicht mehr festhalten, sondern stattdessen gemeinnützige Arbeit in den Niederlanden leisten wollte. Da keine weiteren Anträge seitens des Beschwerdeführers gestellt wurden, die eine materiell-rechtliche Überprüfung verlangt hätten, hat das Bezirksstatthalteramt die Eingabe zu Recht als Gesuch gemäss Art. 36 Abs. 3 lit. c StGB entgegengenommen und nicht als Einsprache an das Strafgericht weitergeleitet. Demzufolge war das Bezirksstatthalteramt befugt, mit Verfügung vom 10. April 2008 den Antrag auf Umwandlung der Busse in gemeinnützige Arbeit abzuweisen, ihm die Verfahrenskosten von CHF 348.00 aufgrund der eingereichten Unterlagen über seine finanzielle Situation zu erlassen und den Strafbefehl vom 31. Oktober 2007 mit Erlass der Verfügung in Rechtskraft erwachsen zu lassen.


3.1 Laut der Stellungnahme vom 1. September 2008 der Staatsanwaltschaft sei diese angefochtene Verfügung gemäss Art. 36 Abs. 3 StGB ein explizit geregelter Fall einer Wiederaufnahme. Indem der Beschwerdeführer das Bezirksstatthalteramt informiert habe, dass er über ein tieferes Einkommen verfüge als zum Zeitpunkt der Urteilsfällung, habe er neue Tatsachen vorgebracht. Infolge dessen habe das Bezirksstatthalteramt über die Umwandlung der Busse entschieden (analog § 202 Abs. 2 StPO). Dieser Entscheid des Bezirksstatthalteramtes sei gemäss § 206 StPO mittels Beschwerde bei der Dreierkammer des Kantonsgerichts anfechtbar. Es könne keine Analogie zum Einspracheverfahren hergeleitet werden, da die Frist für die Einsprache abgelaufen sei, der Angeschuldigte den Strafbefehl somit ursprünglich akzeptiert habe und dieser folglich in Rechtskraft erwachsen sei.


3.2 Laut Art. 385 StGB ist die Wiederaufnahme (Revision) ein ausserordentliches Rechtsmittel, durch welches materiell und formell rechtskräftige Urteile, die nicht mit der materiellen Wahrheit übereinstimmen, unter gewissen Voraussetzungen korrigiert werden können. Laut § 202 Abs. 1 lit. c StPO kann gegen alle rechtskräftigen Endurteile und Einstellungsbeschlüsse die Wiederaufnahme des Verfahrens verlangt werden, wenn neue und erhebliche Tatsachen oder Beweismittel vorliegen, die dem urteilenden Gericht zur Zeit des früheren Verfahrens nicht bekannt gewesen sind und die allein oder zusammen mit den früher festgestellten Tatsachen geeignet sind, den Freispruch oder eine wesentlich geringere Bestrafung der verurteilten Person herbeizuführen. Das Erfordernis der Neuheit verlangt, dass die Tatsache oder das Beweismittel dem seinerzeit erkennenden Gericht nicht bekannt war. Die Tatsache oder das Beweismittel muss bereits im Zeitpunkt bestanden haben, in dem jenes Gericht das Urteil fällte, das in freier Kognition das Erkenntnis über den Sachverhalt treffen konnte, d.h. in der Regel im Zeitpunkt des erstinstanzlichen Urteils oder des Berufungsentscheids. Nachträglich eintretende Entwicklungen sind keine revisionsrechtlichen "Nova", weil es nicht die Aufgabe der Wiederaufnahme ist, eine rechtskräftige Entscheidung einem seither veränderten Sachverhalt anzupassen (vgl. Robert Hauser/ Erhard Schweri/ Karl Hartmann, Schweizerisches Strafprozessrecht, 6. Auflage, Basel 2005, § 102 N 22). Gemäss § 203 Abs. 5 StPO ist das Gesuch um Wiederaufnahme schriftlich mit Begründung und unter der Angabe der Beweismittel, welche die Berechtigung der Wiederaufnahme belegen, einzureichen. Aufgrund dieser Eingaben wird entschieden, ob das Gesuch um Wiederaufnahme zugelassen wird (§ 204 Abs. 3 StPO). Nach § 206 Abs. 1 i.V.m. § 5 Abs. 2 lit. d StPO kann gegen ablehnende Wiederaufnahmeentscheide, mit Ausnahme solcher des Kantonsgerichts, innert 10 Tagen seit Eröffnung Beschwerde erhoben werden. Wird ein Wiederaufnahmeverfahren zugelassen, so ist nach § 205 Abs. 1 StPO das ordentliche Verfahren anwendbar.


3.3 Es gilt zu prüfen, ob die Verfügung vom 10. April 2008 des Bezirksstatthalteramtes als ablehnender Wiederaufnahmeentscheid erachtet werden kann und ob das Kantonsgericht die dagegen erhobene Beschwerde in Analogie zu § 206 StPO zu beurteilen hat. Laut der Auffassung der Staatsanwaltschaft und des Strafgerichts handelt es sich bei einem Entscheid nach Art. 36 Abs. 3 StGB um einen gesetzlich geregelten Wiederaufnahmeentscheid. Gemäss diesem Artikel kann die ursprünglich ausgesprochene rechtskräftige Strafe nach Würdigung eines neuen Sachverhalts abgeändert werden. Die Änderung ist zwar zunächst nur provisorisch, da sie mit der Bedingung der Erfüllung der nachträglich ausgesprochenen milderen Ersatzmassnahme verbunden ist. Im Gegensatz zur Wiederaufnahme werden bei einem Entscheid nach Art. 36 Abs. 3 StGB jedoch ausdrücklich nur Tatsachen berücksichtigt, die nach dem rechtskräftigen Urteil eingetreten sind ("…massgebende Verhältnisse seit dem Urteil erheblich verschlechtert haben…"). Bei der Revision sind hingegen nur jene Tatsachen massgeblich, die schon zum Zeitpunkt des Urteils feststanden, dem Gericht aber nicht bekannt waren. Tatsachen, die erst nach dem Urteil eingetreten sind, werden bei der Revision somit nicht berücksichtigt.


Die Wiederaufnahme gemäss § 202 ff. StPO erfolgt in einem zweistufigen Verfahren. Zunächst wird über die Zulassung des Wiederaufnahmegesuchs entschieden. Die Wiederaufnahme wird abgelehnt, wenn beispielsweise Noven geltend gemacht werden, die im zu revidierenden Urteil bereits gewürdigt worden sind. Folglich findet keine erneute Würdigung des Sachverhalts unter Berücksichtung der unechten Noven statt. Gegen diesen ablehnenden Entscheid des Wiederaufnahmegesuchs ist gemäss § 206 StPO eine Beschwerdemöglichkeit an das Kantonsgericht gegeben. Anschliessend hat das Kantonsgericht nur darüber zu befinden, ob das Verfahren wieder aufzunehmen ist oder nicht, d.h. ob eine neue Sachverhaltswürdigung zu erfolgen hat. Bei Art. 36 Abs. 3 StGB findet jedoch kein derartiges zweistufiges Verfahren Anwendung, sondern es erfolgt direkt eine gerichtliche Würdigung des neuen veränderten Sachverhalts. Ist eine erhebliche Verschlechterung der finanziellen Situation des Gesuchstellers nachgewiesen, so wird gegebenenfalls die Zahlungsfrist verlängert, der Tagessatz herabgesetzt oder gemeinnützige Arbeit angeordnet. Ist die Verschlechterung nicht rechtsgenüglich belegt oder nicht erheblich genug, so wird das Gesuch abgewiesen. Das Gericht fällt hier direkt den eigentlichen Revisionsentscheid, ohne dass zunächst über die Zulassung der Beweise für ein späteres Verfahren entschieden werden müsste. In Anbetracht des zweistufig ausgestalteten Wiederaufnahmeverfahrens ist eine analoge Anwendung von § 206 StPO auf Entscheide gemäss Art. 36 Abs. 3 StGB nicht sachgerecht, weshalb das Kantonsgericht auf die vorliegende Beschwerde nicht eintritt.


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4.1 Abschliessend ist zu prüfen, welche kantonale Instanz die vorliegende Gesetzeslücke zu schliessen respektive über die Beschwerde gegen eine ablehnende Verfügung des Bezirksstatthalteramtes gemäss Art. 36 Abs. 3 lit. c StGB zu befinden hat. Gemäss der Strafprozessordnung des Kantons Basel-Landschaft (StPO) erledigen die Bezirksstatthalterämter die Fälle in ihrem Zuständigkeitsbereich mit Erlass eines Strafbefehls. Gegen den Strafbefehl kann der Beurteilte binnen zehn Tagen seit Zustellung Einsprache erheben (§ 134 StPO). Für die Beurteilung von Einsprachen gegen Strafbefehle ist das Strafgerichtspräsidium zuständig (§ 3a Abs. 1 StPO). Ausserdem können die Bezirksstatthalterämter auch verfahrensleitende Verfügungen erlassen. Für die Beurteilung von Einsprachen gegen verfahrensleitende Verfügungen im Untersuchungs- und Anklageverfahren ist laut § 120 i.V.m. § 6 StPO das Verfahrensgericht in Strafsachen zuständig.


4.2 Nach Art. 36 StGB wird dem Richter ein Entscheid des Strafvollzugs zugewiesen, da es ihm diese Bestimmung ermöglicht, bei massgeblichen Veränderungen der Verhältnisse seit Urteilsfällung den Strafvollzug abzuändern. Er kann den Vollzug sistieren und eine der gesetzlich vorgesehenen Ersatzmassnahmen anordnen. Wird diese Ersatzmassnahme nicht erfüllt, wird die Sistierung wieder aufgehoben und jene Strafe vollzogen, die ursprünglich im Strafbefehl vorgesehen war. Die Sistierung ist somit mit einer bedingten Änderung der Strafe verbunden. Das Kantonsgericht erachtet es nicht als sachgerecht, diese Sistierung als eine verfahrensleitende Verfügung zu betrachten, um damit das Beschwerdeverfahren gemäss § 120 StPO analog anwendbar zu erklären. Dieses Beschwerdeverfahren gegen verfahrensleitende Verfügungen hat primär zu gewährleisten, dass die Behörden im Untersuchungs- bzw. Anklageverfahren die Verfahrensrechte der Parteien beachten.


Gegen einen Entscheid gemäss Art. 36 Abs. 3 StGB ist vielmehr ein ordentliches Rechtsmittel zuzulassen. Der Strafbefehl vom 31. Oktober 2007 des Bezirksstatthalteramtes ist mit Verfügung vom 10. April 2008 in Rechtskraft erwachsen und stellt den Endentscheid in der Hauptsache dar. Die erlassene Verfügung verkörpert hingegen nur einen bedingten Endentscheid infolge veränderter Tatsachen im Bereich von Art. 36 StGB. Mit diesem Artikel schuf der Gesetzgeber die Möglichkeit, auf bezirksstatthalteramtlicher Ebene den rechtskräftigen Entscheid wegen veränderten Tatsachen im gesetzlich definierten Rahmen (Art. 36 Abs. 3 lit. a - c StGB) anzupassen respektive ihn einer Art "Revision" zu unterziehen. Da dieser bedingte Endentscheid aufgrund einer erneuten Sachverhaltswürdigung ergangen ist, muss dagegen - wie im Revisionsverfahren - ein ordentliches Rechtsmittel gegeben sein. Falls kein Rechtsmittel gegen derartige ablehnende Verfügungen von Bezirksstatthalterämtern existieren würde, käme dies einer Vereitelung der Rechtsweggarantie gemäss Art. 29a BV gleich. In Anbetracht der momentanen Zuständigkeitsregelungen der StPO erachtet das Kantonsgericht es als naheliegend, das Präsidium des Strafgerichts Basel-Landschaft, welches für die Überprüfung von materiell-rechtlichen Entscheiden der Bezirksstatthalterämter angerufen werden kann, für die Beurteilung von ablehnenden Verfügungen der Bezirksstatthalter gemäss Art. 36 Abs. 3 StGB als zuständig zu erklären. Um die vorliegende Gesetzeslücke zu füllen, sollen somit die Bestimmungen des Einspracheverfahrens gemäss § 134 StPO i.V.m. § 3a Abs. 1 StPO analog angewendet werden. Aus diesen Gründen wird die Beschwerde zur Beurteilung an das Präsidium des Strafgerichts Basel-Landschaft weitergeleitet.


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KGE ZS vom 25. November 2008 i.S. K.H. gegen Statthalteramt Liestal (200 08 847/LAG)



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