Ausländerrecht

Anwendbarkeit des FZA beim Familiennachzug


Nach Art. 7 lit. d FZA regelt das Freizügigkeitsabkommen unter anderem das Aufenthaltsrecht von Familienangehörigen der Staatsangehörigen von Vertragsstaaten, und zwar ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit (E. 5.1)


Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichts muss sich ein Drittstaatsangehöriger, der nachgezogen werden will, bereits rechtmässig mit einem nicht nur vorübergehenden Aufenthaltstitel in der Schweiz oder einem anderen Vertragsstaat aufgehalten haben. Diese Praxis basiert auf dem Urteil Akrich des EuGH. Das Bundesgericht hat bis dato seine Rechtsprechung nicht ausdrücklich an die neue Praxis des EuGH (Metock-Praxis) angepasst und die Frage offen gelassen (E. 5.2)


Der Zweck des FZA ist, eine parallele Rechtslage zwischen der Schweiz und den Mitgliedstaaten der EU zu schaffen. Zur Erreichung der Ziele dieses Abkommens treffen die Vertragsparteien alle erforderlichen Massnahmen, damit in ihren Beziehungen gleichwertige Rechte und Pflichten wie in den Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft, auf die Bezug genommen wird, Anwendung finden (Art. 16 Abs. 1 FZA; E. 5.3)


Um den Grundsatz in Art. 16 Abs. 1 FZA und mithin die parallele Rechtsentwicklung nicht zu missachten, sieht Art. 16 Abs. 2 Satz 2 FZA vor, dass die Schweiz über die Rechtsprechung nach dem Zeitpunkt der Unterzeichnung des Abkommens unterrichtet wird und der Gemischte Ausschuss, bestehend aus Vertretern der Vertragsparteien, auf Antrag einer Vertragspartei über die Auswirkungen dieser Rechtsprechung entscheidet (Art. 14 FZA). Die neue Rechtsprechung des EuGH ist somit für die Schweiz genauso wenig automatisch verbindlich wie die neuen Verordnungen und Richtlinien der EU (E. 5.4)


Art. 44 AuG ist nicht anwendbar auf aufenthaltsberechtigte Bürger der EU, welche in Drittstaaten wohnhafte Familienangehörige nachziehen wollen. Da diesfalls für die Frage des zulassungsberechtigten Personenkreises das FZA - zumindest nach der geltenden Akrich-Praxis - nicht anwendbar ist, besteht bezüglich der beschriebenen Fallkonstellation eine Gesetzeslücke (E. 6)



Sachverhalt

Der aus dem Kosovo stammende G., geboren 1980, reiste erstmals mit seinen Eltern und Geschwistern im Mai 1996 nach Deutschland ein. Nach mehrmaliger strafrechtlicher Verurteilung wurde G. mit Verfügung des Regierungspräsidiums Karlsruhe vom 3. Dezember 2002 mit unbefristeter Wirkung aus Deutschland ausgewiesen. Am 24. Oktober 2003 reiste G. erstmals als Asylbewerber unter Angabe falscher Personalien in die Schweiz ein. Am 14. Juni 2004 lehnte das Bundesamt für Flüchtlinge (heute: Bundesamt für Migration [BFM]) sein Asylgesuch ab und wies ihn rechtskräftig aus der Schweiz aus. Die Lebenspartnerin von G., die Deutsche R., geboren 1982, erhielt eine Aufenthaltsbewilligung EG/EFTA, nachdem sie am 18. Februar 2008 in die Schweiz eingereist war. Gleichentags reiste G. mit der gemeinsamen Tochter von Deutschland aus in den Kosovo. Am 14. April 2008 haben R. und G. im Kosovo geheiratet. R. stellte nach ihrer Rückkehr in die Schweiz am 26. Juli 2008 ein Gesuch um Familiennachzug für G. und die gemeinsame Tochter, welche sich zu dieser Zeit noch im Kosovo aufhielten. Daraufhin erteilte das Amt für Migration Basel-Landschaft (AfM) am 19. August 2008 die Einreiseerlaubnis für G. und die Tochter, worauf diese am 30. August 2008 in die Schweiz einreisten. Am 8. September 2008 meldete sich G. bei der Gemeinde an. Das AfM verweigerte G. in seiner Verfügung vom 6. Januar 2009 die Erteilung der Aufenthaltsbewilligung zum Verbleib bei seiner Ehefrau und ordnete die Ausreise auf den 6. April 2009 an. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die zahlreichen Verurteilungen ständen dem Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung entgegen. Dagegen erhob G. Beschwerde beim Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft (Regierungsrat) und beantragte sinngemäss die Aufhebung der Verfügung vom 6. Januar 2009 und die Erteilung der Aufenthaltsbewilligung. Der Regierungsrat wies die Beschwerde unter o/e Kostenfolge ab.


Mit Schreiben vom 23. März 2009 erhob G. Beschwerde beim Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Verfassungs- und Verwaltungsrecht (Kantonsgericht), und beantragte, in Aufhebung der Verfügung des AfM vom 6. Januar 2009 und des Regierungsratsbeschlusses vom 10. März 2009 sei ihm eine Aufenthaltsbewilligung zu erteilen.



Erwägungen

1. - 4. (…)


5.1 Nach Art. 7 lit. d FZA regelt das Freizügigkeitsabkommen unter anderem das Aufenthaltsrecht von Familienangehörigen der Staatsangehörigen von Vertragsstaaten, und zwar ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit. Demgemäss spielt es für das Aufenthaltsrecht keine Rolle, ob die nachzuziehenden Familienangehörigen ebenfalls Staatsangehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Union (EU) oder ob sie Drittstaatsangehörige sind (vgl. hierzu Martina Caroni/Tobias D. Meyer/Lisa Ott, Migrationsrecht, Bern 2009, S. 149, Rz 502). Gemäss Art. 3 Abs. 1 Anhang I FZA haben Familienangehörige einer Person, welche Staatsangehörige einer Vertragspartei des Abkommens ist und ein Aufenthaltsrecht hat, das Recht, bei ihr Wohnung zu nehmen. Nach Art. 3 Abs. 2 lit. a Anhang I FZA gilt unter anderem der Ehegatte als Familienangehöriger.


5.2 Nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichts muss sich ein Drittstaatsangehöriger, der nachgezogen werden will, bereits rechtmässig mit einem nicht nur vorübergehenden Aufenthaltstitel in der Schweiz oder einem anderen Vertragsstaat aufgehalten haben (vgl. hierzu BGE 130 II 1 E. 3.6). Diese Praxis basiert auf dem Urteil Akrich des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaft (EuGH; EuGH, C-109/01 vom 23. September 2003 [Akrich]). In seinem neueren Urteil Jia (EuGH, C-1/05 vom 9. Januar 2007) hat der EuGH jedoch Abstand genommen von seiner Rechtsprechung im Urteil Akrich und entschieden, dass das Gemeinschaftsrecht die Mitgliedsstaaten nicht verpflichte, die Gewährung eines Aufenthaltsrecht an nachzuziehende Drittstaatsangehörige von einem rechtmässigen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat abhängig zu machen (vgl. hierzu Caroni/Meyer/Ott, a.a.O, S. 152, Rz 504). Da der EuGH die im Urteil Akrich anerkannte zusätzliche Bewilligungsvoraussetzung zwar nicht als verbindlich, aber auch nicht als unzulässig beurteilt hatte, hat es das Bundesgericht abgelehnt, seine Rechtsprechung zu ändern (vgl. hierzu BGE 134 II 10 E. 3; Caroni/Meyer/Ott, a.a.O, S. 152ff., Rz 504). Seither hat der EuGH seine im Urteil Jia begonnene Rechtsprechungsänderung konkretisiert und festgestellt, dass es den Mitgliedstaaten untersagt sei, für die Einreise von Drittstaatsangehörigen, die mit Unionsbürgern verheiratet sind, einen rechtmässigen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat vorauszusetzen (vgl. hierzu EuGH, C-127/08 vom 25. Juli 2008 [Metock-Praxis]; Caroni/Meyer/Ott, a.a.O, S. 155, Rz 505). Das Bundesgericht hat bis dato seine Rechtsprechung nicht ausdrücklich an die neue Praxis des EuGH angepasst und die Frage offen gelassen (vgl. hierzu Urteile des Bundesgerichts, 24. März 2009, 2C_607/2008; vom 13. Februar 2009, 2C_35/2009).


5.3 Der Zweck des FZA ist, eine parallele Rechtslage zwischen der Schweiz und den Mitgliedstaaten der EU zu schaffen. Zur Erreichung der Ziele dieses Abkommens treffen die Vertragsparteien alle erforderlichen Massnahmen, damit in ihren Beziehungen gleichwertige Rechte und Pflichten wie in den Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft, auf die Bezug genommen wird, Anwendung finden (Art. 16 Abs. 1 FZA; Alberto Achermann/Martina Caroni, § 6 Einfluss der völkerrechtlichen Praxis auf das schweizerische Migrationsrecht, in: Uebersax/Rudin/Hugi Yar/Geiser [Hrsg.], Ausländerrecht, 2. Auflage, Basel 2009, Rz 6.47; Marc Spescha, Inländerdiskriminierung im Ausländerrecht?, in: Aktuelle Juristische Praxis (AJP) 11/2008, S.1432ff.).  Vor diesem Hintergrund kann der Grundsatz formuliert werden, dass die Bestimmungen des FZA, welche an gemeinschaftliche Garantien anknüpfen, in Anlehnung an die gemeinschaftliche Bedeutung auszulegen sind (vgl. hierzu Astrid Epiney, Das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, in: Schweizerische Juristen-Zeitung (SJZ) 105/2009, S. 26f.). Demzufolge müsste sich die aktuelle Schweizer Rechtsprechung, um zweckorientiert dem FZA zu folgen, an der aktuellen Rechtsprechung des EuGH orientieren und das Urteil Metock bei der Rechtsanwendung heranziehen und anwenden. Dem widerspricht hingegen Art. 16 Abs. 2 FZA, wie nachfolgend dargestellt wird.


5.4 Das FZA ist ein statisches Abkommen. Es ist nicht evolutiv angelegt und kennt gemäss Art. 17 FZA keine automatische Fortschreibung des "acquis communautaire". Dies gilt grundsätzlich auch für die Rechtsprechung. Gemäss Art. 16 Abs. 2 FZA ist für die Anwendung des Freizügigkeitsabkommens die einschlägige Rechtsprechung des EuGH vor dem Zeitpunkt der Unterzeichnung (21. Juni 1999) massgebend. Um den Grundsatz in Art. 16 Abs. 1 FZA und mithin die parallele Rechtsentwicklung nicht zu missachten, sieht Art. 16 Abs. 2 Satz 2 FZA vor, dass die Schweiz über die Rechtsprechung nach dem Zeitpunkt der Unterzeichnung des Abkommens unterrichtet wird und der Gemischte Ausschuss, bestehend aus Vertretern der Vertragsparteien, auf Antrag einer Vertragspartei über die Auswirkungen dieser Rechtsprechung entscheidet (vgl. Art. 14 FZA). Diese Regelung entspricht dem Grundkonzept der bilateralen Verträge, die institutionelle Autonomie der Parteien zu wahren, und der Erkenntnis, dass die Rechtsprechung des EuGH mehr als diejenige anderer Gerichte nicht bloss rechtsanwendend, sondern ausgeprägt rechtsschöpfend ist. Um zu vermeiden, dass der EuGH durch eine neue Rechtsprechung faktisch für die Schweiz verbindlich neues Recht setzen kann, wird also der "acquis judiciaire" auf den Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung festgelegt. Die neue Rechtsprechung des EuGH ist somit für die Schweiz genauso wenig automatisch verbindlich wie die neuen Verordnungen und Richtlinien der EU (vgl. hierzu Achermann/Caroni, a.a.O., Rz 6.47; Thomas Cottier/Nicolas Diebold, Warenverkehr und Freizügigkeit in der Rechtsprechung des Bundesgerichts zu den Bilateralen Abkommen, in: Jusletter 2. Februar 2009, Rz 43ff.; Hansjörg Seiler, Auswirkungen des EU-Rechts auf Nicht-EU-Mitglieder, XVI. Treffen der obersten Verwaltungsgerichtshöfe Österreichs, Deutschlands, des Fürstentums Liechtenstein und der Schweiz vom 18./19. September 2008, Leipzig). Hierbei ist zu beachten, dass das Bundesgericht eine neue Rechtsprechung des EuGH auch ohne formellen Beschluss des Gemischten Ausschusses übernehmen und zu Auslegungszwecken heranziehen kann. So hat es in BGE 130 II 113 seine Rechtspraxis dahingehend präzisiert, dass spätere Urteile des EuGH insbesondere dann massgebend sind, wenn sie die frühere EuGH Rechtsprechung konkretisieren (vgl. hierzu BGE 130 II 113 E. 5.2; 130 II 1 E. 3.6.1 [Akrich]). Wie eingangs bereits erwähnt, hat das Bundesgericht bis dato die Frage der Anwendbarkeit der Metock-Praxis offengelassen (vgl. hierzu E. 5.2). Somit ist es dem Gemischten Ausschuss zu überlassen, in dieser Angelegenheit zu entscheiden oder allenfalls auf einen diesbezüglichen klaren Entscheid des Bundesgerichts zu warten. Schliesslich äussert sich das Bundesamt für Migration dahingehend, dass die aktuelle Praxis und mithin die Rechtsprechung im Urteil Akrich in der Schweiz weiterhin Anwendung findet (vgl. hierzu Rundschreiben des Bundesamtes für Migration, 20. Oktober 2008, Nr. 2008.09.08-002).


In Würdigung dieser Umstände ist festzustellen, dass im vorliegend zu beurteilenden Fall noch die Akrich-Praxis Anwendung findet, was zur Folge hat, dass der Beschwerdeführer keinen Rechtsanspruch gemäss Art. 7 lit. d FZA i.V.m. Art. 3 Abs. 1 Anhang I FZA hat, da er zum Zeitpunkt des Familiennachzugs keinen rechtsgültigen Aufenthaltstitel in der Schweiz oder einem EU-Mitgliedstaat hatte.


6. In einem nächsten Schritt ist somit zu prüfen, ob dem Beschwerdeführer zu Unrecht eine Aufenthaltsbewilligung gemäss Art. 44 AuG verwehrt wurde.


Laut Art. 44 AuG kann einem ausländischen Ehegatten und ledigen Kindern unter 18 Jahren von Personen mit Aufenthaltsbewilligung eine Aufenthaltsbewilligung erteilt werden, wenn sie mit diesen zusammenwohnen (lit. a); eine bedarfsgerechte Wohnung vorhanden ist (lit. b); und sie nicht auf Sozialhilfe angewiesen sind (lit. c). Art. 44 AuG begründet keinen Nachzugsanspruch, vielmehr liegt die Bewilligung des Familiennachzugs im behördlichen Ermessen, welches allerdings pflichtgemäss auszuüben ist. Jedoch ist diese Bestimmung nicht anwendbar auf aufenthaltsberechtigte Bürger der EU, welche in Drittstaaten wohnhafte Familienangehörige nachziehen wollen. Da diesfalls für die Frage des zulassungsberechtigten Personenkreises das FZA - zumindest nach der in casu geltenden Akrich-Praxis - nicht anwendbar ist, besteht bezüglich der beschriebenen Fallkonstellation eine Gesetzeslücke. Insofern der Gesetzgeber erklärtermassen eine rechtsgleiche Behandlung von Schweizerinnen und Schweizern mit Bürgern der EU angestrebt hat, müsste ein Nachzugsanspruch der in Drittstaaten wohnhaften Familienangehörigen von Bürgern der Europäischen Union analog zu Art. 42 Abs. 1 AuG zu gewähren sein (vgl. hierzu Marc Spescha, in: Spescha/Thür/Zünd/Bolzli [Hrsg.], Kommentar Migrationsrecht, Zürich 2008, S. 101). Vorliegend kann diese Frage aber offen gelassen werden, da - wie nachstehend ausgeführt wird - Widerrufsgründe gemäss Art. 62 AuG gegeben sind.


7. - 12. (…)


KGE VV vom 21. Oktober 2009 i.S. G. (810 09 98)


Gegen dieses Urteil hat G. beim Bundesgericht Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten erhoben.



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