Strafrecht

Verletzung des Beschleunigungsgebots im Strafverfahren


Rechtsfolgen der Verletzung des Beschleunigungsgebots: Berücksichtigung der Verfahrensverzögerung im Rahmen der Strafzumessung, Schuldigsprechung des Täters unter gleichzeitigem Verzicht auf die Strafe und in extremen Fällen als "ultima ratio" Einstellung des Verfahrens (Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 29 Abs. 1 BV; E. 3).


Strafverfahren stellen für den Betroffenen eine Belastung dar, welche durch Verzögerungen unnötig in die Länge gezogen werden. Dies ist als unmittelbar persönlichkeitsrelevanter Umstand bei der Strafzumessung strafmindernd zu werten (Art. 47 Abs. 1 StGB; E. 3)



Sachverhalt

Mit Urteil des Strafgerichts des Kantons Basel-Landschaft vom 16.12.2009 wurde N.L. der mehrfachen qualifizierten Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz und der Geldwäscherei schuldig erklärt und zu einer Zuchthausstrafe von 7 Jahren, unter Anrechnung von 31/2 Jahren in Anwendung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK (Verletzung des Beschleunigungsgebots), verurteilt. Das Strafgericht stellte eine massive Verletzung des Beschleunigungsgebots fest und berücksichtigte dies in Abänderung der bisherigen Rechtsprechung nicht nach dem Strafabschlagsmodell, sondern in Anlehnung an einen Beschluss des deutschen Bundesgerichtshofs vom 17.01.2008 und an einen Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 22.01.2009 nach dem Vollstreckungsmodell. Danach werde ein gewisser Anteil der als schuldangemessen erachteten Strafe fiktiv als bereits verbüsst bezeichnet. Im vorliegenden Fall wurde eine Anrechnung von 50 % der Strafe als angemessen erachtet und folglich wurden von der Strafe von 7 Jahren Zuchthaus 31/2 Jahre in Anwendung von Art. 6 Ziff. 1 EMRK wegen Verletzung des Beschleunigungsgebots als bereits vollstreckt angerechnet. Gegen dieses Urteil erklärten beide Parteien die Appellation.



Erwägungen

1. - 2. ( … )


3. Strafzumessung


( … )


Das Beschleunigungsgebot gemäss Art. 29 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK verpflichtet die Behörden, das Strafverfahren zügig voranzutreiben, um den Beschuldigten nicht unnötig über die gegen ihn erhobenen Vorwürfe im Ungewissen zu lassen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts kommen folgende Sanktionen für die Verletzung des Beschleunigungsgebots in Betracht: die Berücksichtigung der Verfahrensverzögerung im Rahmen der Strafzumessung, die Schuldigsprechung des Täters unter gleichzeitigem Verzicht auf die Strafe und in extremen Fällen als "ultima ratio" die Einstellung des Verfahrens (BGE 133 IV 158 E. 8, 117 IV 129 E. 4.d). Dabei ist zu berücksichtigen, wie schwer der Angeschuldigte durch die Verfahrensverzögerung getroffen wurde und wie gravierend die ihm vorgeworfenen Straftaten sind. Zudem ist auch den Interessen der Geschädigten Rechnung zu tragen (BSK Strafrecht I-Wiprächtiger, 2. Aufl., Art. 47 N 137 ff. und dort zit. Rspr.).


Das Strafgericht hat mit dem Wechsel zum sog. Vollstreckungsmodell gemäss einem Beschluss des deutschen Bundesgerichtshofs vom 17.01.2008 (GSSt 1/07) eine Praxisänderung vorgenommen. Die Problematik von Praxisänderungen rührt daher, dass grundlegende Interessen miteinander kollidieren und gegeneinander abzuwägen sind: Einerseits gebietet das Erfordernis der richtigen Rechtsanwendung, dass eine als unrichtig erkannte Praxis geändert wird. Andererseits erfordern das Rechtsgleichheitsgebot und das Vertrauensschutzprinzip sowie die Rechtssicherheit, dass eine einmal begründete Praxis beibehalten wird und dass sich der Bürger auf die Auslegung einer Norm durch die bisherige Praxis verlassen darf (Häfelin/Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 5. Aufl., N 768 f.). Die Änderung einer bestehenden Praxis ist mit der Rechtsgleichheit vereinbar, sofern folgende 4 Voraussetzungen erfüllt sind: Erstens müssen ernsthafte und sachliche Gründe für die neue Praxis sprechen. Eine Änderung lässt sich insbes. im Hinblick auf bessere Kenntnis der gesetzgeberischen Absichten oder auf die künftige Entwicklung und die damit verbundenen Gefahren rechtfertigen. Zweitens muss die Änderung grundsätzlich erfolgen. Es darf sich nicht bloss um eine singuläre Abweichung handeln, sondern die neue Praxis muss für die Zukunft wegleitend sein für alle gleichartigen Sachverhalte. Drittens muss das Interesse an der richtigen Rechtsanwendung gegenüber demjenigen an der Rechtssicherheit überwiegen. Dies trifft dann zu, wenn die neue Lösung besserer Erkenntnis der ratio legis, veränderten äusseren Verhältnissen oder gewandelten Rechtsanschauungen entspricht. Sprechen keine entscheidenden Gründe zugunsten einer Praxisänderung, ist die bisherige Praxis beizubehalten. Viertens darf eine Praxisänderung keinen Verstoss gegen Treu und Glauben darstellen (Häfelin/Müller/Uhlmann, 5. Aufl., N 509 ff.).


Anlass der deutschen Praxisänderung vom Strafabschlagsmodell zum Vollstreckungsmodell war, dass es gemäss deutschem Recht selbst bei einer Strafreduktion wegen eines Verstosses gegen das Beschleunigungsgebot unzulässig ist, das gesetzliche Mindestmass der im konkreten Straftatbestand angedrohten Strafe zu unterschreiten (vgl. Beschluss des deutschen BGH vom 17.01.2008, E. 8, 15 und 30). In der Schweiz präsentiert sich die Ausgangslage ganz anders: Art. 48a Abs. 1 StGB hält fest, dass das Gericht nicht an die angedrohte Mindeststrafe gebunden ist, wenn es die Strafe mildert. Ferner kann das Gericht gemäss Art. 48a Abs. 2 StGB bei der Strafmilderung auch auf eine andere als die angedrohte Strafart erkennen. Eine Bindung des Richters an das gesetzliche Mindestmass bei einer Strafmilderung ist dem schweizerischen Recht fremd, weshalb dies - im Unterschied zur Rechtslage in Deutschland - keinen sachlichen Grund für eine Praxisänderung darstellt. Die Vorinstanz nennt unter den vom deutschen Bundesgerichtshof erwähnten weiteren Vorzügen des Vollstreckungsmodells (vgl. Beschluss des deutschen BGH vom 17.01.2008, E. 16 und 43 ff.) den Umstand, dass durch die Berücksichtigung einer Verletzung des Beschleunigungsgebots mittels Strafreduktion im Grunde sachfremde Umstände in die Strafzumessung einflössen, was beim Vollstreckungsmodell vermieden werden könne. Dem ist entgegen zu halten, dass gestützt auf Art. 47 und 48 StGB im Rahmen der Täterkomponenten ohnehin auch verschuldensfremde Gesichtspunkte wie das Vorleben und die persönlichen Verhältnisse sowie die Wirkung der Strafe auf das Leben des Täters und das Wohlverhalten nach der Tat bei einer lange verstrichenen Zeit nach der Tat mit einzubeziehen sind (vgl. u.a. Trechsel/Affolter-Eijsten, Praxiskommentar StGB, Art. 47 N 11, 33; Stratenwerth, Schweiz. Strafrecht, Allgemeiner Teil II, § 6 N 60, 70 ff.; Stratenwerth/Wohlers, Handkommentar StGB, 2. Aufl., Art. 47 N 16, 18; BSK Strafrecht I-Wiprächtiger, 2. Aufl., Art. 48 N 32 ff.). In Art. 47 Abs. 1 Satz 2 StGB wird zudem - anders als noch in Art. 63 aStGB - ausdrücklich im Gesetz festgehalten, dass das Gericht bei der Strafzumessung neben dem Verschulden den Bedürfnissen der Spezialprävention Rechnung tragen kann (vgl. BSK Strafrecht I-Wiprächtiger, 2. Aufl., Art. 47 N 52, 57 ff.). D.h. die Strafe wird nach schweizerischem Recht nicht allein vom Verschulden bestimmt (vgl. Kilias/Kuhn/Dongois/Aebi, Grundriss des Allgemeinen Teils des Schweiz. StGB, N 1210, 1216 f.). Der Berücksichtigung von Verfahrensüberlängen liegt der Gedanke zugrunde, dass Strafverfahren für den Betroffenen eine Belastung darstellen, welche durch Verzögerungen unnötig in die Länge gezogen werden (BGer 6B_1087/2009 E. 2.6.2), was als unmittelbar persönlichkeitsrelevanter Umstand strafmindernd zu werten ist (vgl. auch Stephenson, Die Strafzumessung im schweizerischen Strafprozess, in: Anwaltsrevue 8/2010, S. 321). Die schweizerische Rechtslehre hält es ebenfalls für sachlich begründet, eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes als Strafmilderungsgrund zu behandeln, der neben Art. 48 lit. e StGB selbständige Bedeutung beansprucht (Trechsel/Affolter-Eijsten, Praxiskommentar StGB, Art. 48 N 24; Stratenwerth, Schweiz. Strafrecht, Allgemeiner Teil II, § 6 N 59, 104; Stratenwerth/Wohlers, Handkommentar StGB, 2. Aufl., Art. 48 N 10; BSK Strafrecht I-Wiprächtiger, 2. Aufl., Art. 47 N 139, 143, Art. 48 N 37). Ferner ist das bisherige Strafabschlagsmodell zweifellos EMRK-konform (BGE 117 IV 124 E. 4.c; vgl. auch Beschluss des deutschen BHG vom 17.01.2008, GSSt 1/07, E. 15). Weiter ist zu berücksichtigen, dass sich der Gesetzgeber in Kenntnis der freien Rechtsfindung des Bundesgerichts praeter legem (BGE 117 IV 128 E. 4.b) bei der erst kürzlich erfolgten Revision der Allgemeinen Bestimmungen des StGB in keiner Weise mit der Frage, wie der Verletzung des Beschleunigungsgebots Rechnung zu tragen sei, auseinandergesetzt hat. Daher sprechen nach Ansicht des Kantonsgerichts keine sachlichen und ernsthaften Gründe dafür, die bisherige Praxis zu den Sanktionen einer Verletzung des Beschleunigungsgebots zu ändern. Auch die Rechtssicherheit für den Angeklagten gebietet es, nicht ohne Not von der bisherigen Praxis abzuweichen, müsste er doch sonst eine Strafe gewärtigen, bei welcher der bedingte oder teilbedingte Vollzug von vorneherein ausgeschlossen wäre. Die Erörterung der weiteren Voraussetzungen für eine Praxisänderung können deshalb unterbleiben.


Bei der festgestellten Verfahrensverschleppung erscheint im Einklang mit der bundesgerichtlichen Praxis bzw. mit vergleichbaren Fällen eine Reduktion der Strafe um 50 % als angemessen. ( … )


4. - 5. ( … )


KGE ZS vom 5. November 2010 i.S. Kanton Basel-Landschaft gegen N.L. (100 10 608/ZWH)



Back to Top