Strafrecht

Genugtuung im Strafverfahren


Das Strafgericht hat adhäsionsweise geltend gemachte Zivilansprüche zu beurteilen, sofern dies keinen unverhältnismässigen Aufwand mit sich bringt. Geht es lediglich um eine Genugtuung, so kann deren Umfang ohne grossen Aufwand durch das Strafgericht beurteilt werden. Eine Verweisung auf den Zivilweg ist in diesem Fall nicht gerechtfertigt (E. 7.4).


Voraussetzungen für die Zusprechung einer Genugtuung im Strafverfahren (E. 7.5).


Konkrete Bemessung einer Genugtuungsforderung, die wegen mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern vom Opfer adhäsionsweise geltend gemacht wird (E. 7.6).



Sachverhalt

A. Mit Urteil vom 12. Februar 2009 sprach das Strafgericht S.B. der mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern, der mehrfach versuchten sexuellen Nötigung sowie der Pornographie schuldig und verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe ( … ) (Ziffer 1). ( … ) Die Schadenersatzforderung des Opfers X. (Nr. 1) wurde dem Grundsatz nach gutgeheissen und im Übrigen auf den Zivilweg verwiesen (Ziffer 4 Abs. 1). Das Strafgericht verpflichtete S.B. sodann dem Opfer X. (Nr. 1) eine Genugtuung im Umfang von CHF 10'000.-- zuzüglich 5% Zins seit dem 31. Dezember 1998 zu bezahlen. Die Genugtuungsmehrforderung verwies das Gericht auf den Zivilweg (Ziffer 4 Abs. 2). Die Schadenersatz- und Genugtuungsforderung des Opfers Y. (Nr. 2) wurde dem Grundsatz nach gutgeheissen und im Übrigen auf den Zivilweg verwiesen (Ziffer 4 Abs. 3). ( … )


B. Gegen dieses Urteil appellierte S.B. ( … ). Die Opfer X. (Nr. 1) ( … ) und Y. (Nr. 2) erhoben ( … ) Anschlussappellation.


C. In seiner Appellationsbegründung vom 15. September 2009 beantragt S.B. ( … ) Ziffer 4 Abs. 2 des Strafgerichtsurteils (betreffend Genugtuung) vollumfänglich aufzuheben, unter o/e Kostenfolge zu Lasten des Staates.


(Das Opfer Nr. 1) beantragt mit Anschlussappellationsbegründung vom 15. September 2009 es sei Ziffer 4 Abs. 2 des Strafgerichtsurteils aufzuheben und S.B. in Abänderung des erstinstanzlichen Urteils zu verpflichten, ihm eine Genugtuung von CHF 50'000.-- zuzüglich Zins von 5% seit 31. Dezember 1998 zu bezahlen.



Erwägungen

( … )


7.3 Am 1. Januar 2009 ist das totalrevidierte Opferhilfegesetz (OHG) in Kraft getreten. Gemäss Art. 48 lit. a OHG gilt das bisherige Recht weiterhin für Ansprüche auf Entschädigung und Genugtuung für Straftaten, die vor Inkrafttreten des revidierten Gesetzes verübt worden sind. Es ist somit das alte Recht anwendbar.


7.4 Gemäss Art. 9 Abs. 1 aOHG entscheidet das Strafgericht auch über die Zivilansprüche des Opfers, wenn der Täter nicht freigesprochen resp. das Verfahren nicht eingestellt wird. Erfordert die vollständige Beurteilung der Zivilansprüche einen unverhältnismässigen Aufwand, kann das Strafgericht nur dem Grundsatz nach über die Ansprüche entscheiden und das Opfer im Übrigen an das Zivilgericht verweisen (Art. 9 Abs. 3 aOHG). Die Strafgerichte sind also verpflichtet, adhäsionsweise geltend gemachte Zivilansprüche auch tatsächlich zu beurteilen, sofern dies keinen unverhältnismässigen Aufwand mit sich bringt. Sinn und Zweck dieser Bestimmung ist die Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens zu Gunsten des Opfers. Es soll nicht neben bzw. nach dem oft belastenden Strafprozess noch in einem zweiten Prozess mit den Folgen der Straftat konfrontiert werden, sondern in einem gesamthaft gestrafften Verfahren und ohne übermässiges zusätzliches Kostenrisiko zu seinem Recht kommen können. Die Behandlung von Zivilforderungen verursacht für das Strafgericht immer zusätzlichen Aufwand. Dieser ist im Interesse des Opfers grundsätzlich in Kauf zu nehmen. Erst wenn der Aufwand umfangmässig und zeitlich unverhältnismässig wäre, ist eine Verweisung auf den Zivilweg zulässig. Dies ist nicht der Fall, wenn nur noch ein paar Unterlagen fehlen. Steht lediglich eine Genugtuung zur Diskussion, so kann deren Umfang ohne grossen Aufwand durch das Strafgericht beurteilt werden. Eine Verweisung auf den Zivilweg ist in diesem Fall nicht gerechtfertigt (vgl. Steiger-Sackmann, in: Kommentar zum Opferhilfegesetz, hrsg. von Gomm/Zehnter, Bern 2005, Art. 9 N 3 ff. und 22).


7.5 Gemäss Art. 12 Abs. 2 aOHG kann dem Opfer unabhängig von seinem Einkommen eine Genugtuung ausgerichtet werden, wenn es schwer betroffen ist und besondere Umstände es rechtfertigen. Diese Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein. Die Bemessung der Genugtuung richtet sich sinngemäss nach den im Zivilrecht für die Festsetzung von Genugtuungen gemäss Art. 47 und 49 OR entwickelten Grundsätzen. Massgebend ist die objektive Schwere und die subjektiven Auswirkungen des Eingriffs für das Opfer. Das Gericht berücksichtigt dabei die Umstände des konkreten Ereignisses. Nicht jede physische oder psychische Verletzung führt zu einer Genugtuung. Voraussetzung ist eine gewisse Schwere der Beeinträchtigung. Ist die Schädigung nicht dauerhaft, so ist ein Anspruch auf Genugtuung nur gegeben, wenn besondere Umstände vorliegen, wie etwa eine lange Leidenszeit oder Arbeitsunfähigkeit. Psychische Beeinträchtigungen, die oft als Folgen bei Eingriffen in die sexuelle Integrität auftreten, müssen bei der Bemessung der Genugtuung berücksichtigt werden, wobei hier auf die Angaben des Opfers und allenfalls spezialisierter Fachärzte abzustellen ist. Es geht jedoch im Unterschied zur Bemessung von Entschädigungen im Sozialversicherungsrecht, namentlich der Integritätsentschädigung nach dem Unfallversicherungsrecht, nicht darum, den medizinisch-theoretischen Grad der Beeinträchtigung zu ermitteln, sondern um eine Schätzung der erlittenen immateriellen Unbill. Bei der konkreten Festsetzung der Genugtuung steht dem Gericht daher ein grosses Ermessen zu (vgl. Gomm, in: Kommentar zum Opferhilfegesetz, a.a.O., Art. 12 N 13 ff.). Bei Sexualdelikten wurden unter dem alten Opferhilferecht Genugtuungen im Betrag von CHF 4'000.-- bis zu CHF 70'000.-- zugesprochen. Dieser sehr hohe letztgenannte Betrag wurde für zwei ausserordentlich schwere Fälle festgelegt, in denen die Opfer bis zur Bewusstlosigkeit stranguliert resp. lebensgefährlich verletzt wurden. Die zugesprochenen Genugtuungen für sexuelle Handlungen mit Kindern betrugen derweilen zwischen CHF 4'000.-- und CHF 13'000.--, wobei die nach altem Opferhilferecht zugesprochenen Beträge zu 5% verzinst werden konnten (Gomm, in: Kommentar zum Opferhilfegesetz, a.a.O., Art. 12 N 36 und 40). Gemäss Art. 28 des revidierten OHG werden bei Entschädigungen und Genugtuungen hingegen keine Zinsen mehr zugesprochen.


7.6 Im vorliegenden Fall beansprucht der Anschlussappellant 2 (Opfer Nr. 1) im Rahmen des Strafverfahrens lediglich eine Genugtuung. Wie zuvor dargelegt, können Genugtuungsforderungen vom Gericht ohne grösseren Aufwand bemessen werden, weshalb eine Verweisung auf den Zivilweg - auch mit Bezug auf eine allfällige Mehrforderung - unzulässig ist. Der Appellant bestreitet nicht, dass er X. (Opfer Nr. 1) dem Grundsatz nach eine Genugtuung schuldet. Dass er mit den von ihm verübten mehrfachen sexuellen Handlungen die sexuelle Integrität seines Opfers erheblich verletzt hat, steht zweifellos fest. Aus den Aussagen des Anschlussappellanten 2 in der Voruntersuchung ergibt sich denn auch, dass er die Handlungen des Appellanten als extrem schlimm empfand und ihn die ganze Angelegenheit sehr stresste (act. 547 und 663). Dr. W. stellte sodann in seinem Bericht vom 24. Juli 2006 fest, dass X. (Opfer Nr. 1) an einer Beeinträchtigung der Nierenfunktion und des Gehörs (Alport-Syndrom), an einer sekundären enuresis nocturna (nächtliches Einnässen) sowie an einer reaktiven Störung leide, die auf eine schwere Belastung durch misshandelnde Erziehung und sexuellen Missbrauch zurückzuführen sei. Er habe eine sehr belastende Familiengeschichte mit einem gewalttätigen, alkoholabhängigen Vater, der seit langem nicht mehr in der Familie lebe und einer Missbrauchsgeschichte, die fälschlicherweise zuerst dem Vater angehängt worden sei. Die enuresis nocturna habe sich mit der Anklage des Täters schlagartig gebessert (act. 1547). Aus diesem Bericht ergibt sich zunächst, dass die gesundheitlichen Probleme des Anschlussappellanten 2 auf verschiedene Ursachen zurückzuführen sind. Da jedoch Dr. W. bereits in einem früheren Bericht vom 18. September 2003 mit Bezug auf das Alport-Syndrom feststellte, dass X. (Opfer Nr. 1) seine angeborene Krankheit mit Würde und Tapferkeit trage (act. 1545), kann davon ausgegangen werden, dass die Beeinträchtigung seiner körperlichen Gesundheit durch die Niereninsuffizienz und die Schwerhörigkeit sich nicht oder kaum auf seine psychische Gesundheit auswirkt. Aus dem ärztlichen Bericht geht sodann klar hervor, dass X. (Opfer Nr. 1) noch etliche Jahre nach den Übergriffen auf seine sexuelle Integrität psychisch und physisch darunter litt und insbesondere die enuresis nocturna resp. die damit bewirkte Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens in einen offensichtlichen Zusammenhang mit dem sexuellen Handlungen des Appellanten stand. Das Verschulden des Appellanten ist - wie zuvor ( … ) ausgeführt wurde - schwer. In Anbetracht dieser Umstände erscheint es angebracht, statt der erstinstanzlich zugesprochenen Teil-Genugtuung von CHF 10'000.-- die Genugtuung zu erhöhen. Es erscheint sodann - in Anbetracht, dass seit den Übergriffen mehr als 10 Jahre vergangen sind - auch angezeigt, die konkrete Genugtuung in Anwendung der heutigen Massstäbe auf den heutigen Zeitpunkt und damit unter Weglassung einer Verzinsung zu bemessen. Die vom Appellanten an X. (Opfer Nr. 1) als Abgeltung für die erlittene Unbill zu bezahlende Genugtuung ist demzufolge auf CHF 25'000.-- festzulegen.


KGE ZS vom 20. April 2010 i.S. Stawa gegen S.B. (100 09 718/SCN)


Das Bundesgericht, Strafrechtliche Abteilung, hat mit Urteil vom 25. Oktober 2010 die gegen diesen Entscheid erhobene Beschwerde in Strafsachen abgewiesen (6B_544/2010).



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