Zivilgesetzbuch

Eheschutz: Zulässigkeit der Appellation / Voraussetzungen für die Bewilligung des Getrenntlebens


Zulässigkeit der Appellation; Voraussetzungen eines Endurteils (§ 217 ZPO, E. 1.3 und 1.4).


Voraussetzungen für die Aufhebung des gemeinsamen Haushalts. Das Getrenntleben ist zu bewilligen, wenn ein gefestigter und klarer Trennungswille eines Ehegatten vorliegt (Art. 175 ZGB, E. 2.4 und 2.5).



Sachverhalt

Im Rahmen des Eheschutzverfahrens zwischen den Parteien verfügte der Präsident des Bezirksgerichts X. am 13. Juli 2010: "Das Verfahren wird ausgestellt. Es wird zur Zeit von der Bewilligung des Getrenntlebens abgesehen." (Ziff. 1). Gleichzeitig wurde die Vormundschaftsbehörde der Gemeinde Z. beauftragt, dem Bezirksgericht X. einen Bericht abzugeben zur Frage, ob Massnahmen zum Schutz der gemeinsamen Kinder der Ehegatten, B. und C., angezeigt seien. Für den Fall der Aufnahme des Getrenntlebens der Ehegatten seien zudem Anträge bezüglich der Zuteilung der Obhut über die Kinder sowie der Ausgestaltung des Besuchs- und Ferienrechts zu stellen (Ziff. 2). Mit Eingabe vom 16. Juli 2010 erklärte die Ehefrau die Appellation gegen Ziff. 1 der bezirksgerichtlichen Verfügung und erhob zugleich - im Sinne eines Eventualantrags - Beschwerde.



Erwägungen

1. Zwischen den Parteien ist vorliegend zunächst umstritten, ob gegen die Verfügung des Be-zirksgerichtspräsidenten A. vom 13. Juli 2010 überhaupt ein Rechtsmittel ergriffen werden kann.


1.1-1.2 ( … )


1.3 Gemäss § 9 Abs. 2 lit. b Ziff. 2 ZPO kann innert drei Tagen gegen Urteile der Bezirksgerichtspräsidien, der Dreierkammern und der Fünferkammern der Bezirksgerichte betreffend den Schutz der ehelichen Gemeinschaft appelliert werden, sofern das Urteil die Aufhebung des gemeinsamen Haushaltes (Art. 175 ZGB), die Regelung des Getrenntlebens (Art. 176 ZGB) oder eine Veränderung der Verhältnisse (Art. 179 ZGB) zum Gegenstand hat. Die Zuständigkeit zur Beurteilung von Appellationen gegen Entscheide der Präsidien und der Dreierkammern der Bezirksgerichte liegt gemäss § 11 Abs. 2 ZPO bei der Dreierkammer des Kantonsgerichts, Abteilung Zivil- und Strafrecht. Appellabel sind ausschliesslich Endurteile, nicht aber Zwischenurteile und Dekrete, die nur die Beweisführung betreffen oder den Gang des Prozesses regeln (§ 217 ZPO). Definitionsgemäss gilt dasjenige Urteil als Endurteil, welches ein erstinstanzliches Verfahren abschliesst (vgl. Adrian Staehelin/Thomas Sutter, Zivilprozessrecht, Zürich 1992, § 19 Rz 3, § 21 Rz 12). Das Zwischenurteil ergeht demgegenüber im Verlaufe des Prozesses über einzelne Streitpunkte, wie beispielsweise die Frage der Verjährung (vgl. Staehelin/Sutter, a.a.O., § 19 Rz 4). Prozessleitende Verfügungen betreffen sodann den Gang des Verfahrens, mithin die Bewilligung des Kostenerlasses oder die Zulassung einer Noveneingabe (vgl. Staehelin/Sutter, a.a.O., § 21 Rz 16). Die kantonale Rechtsprechung zur Frage, unter welchen Voraussetzungen von einem Endurteil auszugehen ist, ist dürftig. Im Jahre 1968 befand das Obergericht, die Verfügung des Gerichtspräsidenten, mit welcher der zu zahlende Unterhalt vorübergehend reduziert wurde, stelle kein Endurteil sondern einen nicht appellablen Zwischenentscheid dar (vgl. OG vom 19. April 1968, AB 1968, S. 50; Heinrich Weibel/Magdalena Rutz, Gerichtspraxis zur basellandschaftlichen Zivilprozessordnung, 4. Aufl., Liestal 1986, S. 252). Den Entscheid des Bezirksgerichtspräsidenten, den im Rahmen eines Scheidungsverfahrens gestellten Antrag eines Vaters, er wolle sein Kind für drei Wochen mit sich in die Ferien nehmen, abzuweisen, erachtete es hingegen nicht als prozessleitende Verfügung sondern als beschwerdefähige vorsorgliche Massnahme (vgl. OG vom 19. Januar 1993, AB 1993, S. 53 f.). Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt: "Der Entscheid des Bezirksgerichtspräsidenten betraf nicht den Gang des Verfahrens. Es wurde vielmehr über ein Begehren des Klägers entschieden, das ein materielles Problem, nämlich das Ferienrecht des Vaters zur fraglichen Zeit, zum Inhalt hatte."


1.4 Der Wortlaut der vorliegend angefochtenen Verfügung lässt nun auf den ersten Blick auf eine prozessleitende Verfügung schliessen, so wird das Verfahren "ausgestellt" und "zur Zeit" von der Bewilligung des Getrenntlebens abgesehen. Das Fehlen einer Rechtsmittelbelehrung kann gleichermassen als Hinweis darauf verstanden werden, dass die Verfügung vom 13. Juli 2010 keinen Endentscheid darstellt. Das Kantonsgericht vertritt allerdings dezidiert die Auffassung, dass nicht auf den Wortlaut sondern vielmehr auf den Inhalt der Verfügung und die sich daraus ergebende Wirkung für die Parteien abzustellen ist. Aus der Begründung der angefochtenen Verfügung ergeht klar, dass die Vorinstanz die Voraussetzungen von Art. 175 ZGB nicht als erfüllt erachtet hat. So heisst es auf S. 3 und 4 der Verfügung "die von der Ehefrau beschriebene psychische Belastung [ist] nicht als ernstliche Gefährdung im Sinne von Art. 175 ZGB zu sehen" bzw. "Da eine ernstliche Gefährdung der Persönlichkeit der Ehefrau zu verneinen ist […]". Gestützt auf diese Erwägungen wurde der Trennungsanspruch in der Folge verneint und die Bewilligung zur Aufnahme des Getrenntlebens verweigert, was einer Abweisung des Begehrens der Ehefrau entspricht. Die Formulierung, dass das Getrenntleben lediglich "zur Zeit" nicht bewilligt werde, kann an dieser Subsumtion nichts ändern, so erfolgte die zugleich verfügte Sistierung des Verfahrens nicht etwa, um weitere Abklärungen hinsichtlich der Frage zu treffen, ob eine Gefährdung der Persönlichkeit der Ehefrau allenfalls doch vorliegen könnte. Das Verfahren wurde einzig und allein ausgestellt, um einen Bericht von der Vormundschaftsbehörde bezüglich der Kinderbelange einzuholen. Dieser hat denn auch ausschliesslich dazu Stellung zu nehmen, wie die Kinderbelange im Falle einer Trennung der Ehegatten zu regeln wären bzw. ob möglicherweise schon zum jetzigen Zeitpunkt - somit im Falle des andauernden Zusammenlebens der Ehegatten - allfällige Kindesschutzmassnahmen angezeigt seien und wird insofern keine Neuerungen in Bezug auf die von der Ehefrau geltend gemachten Trennungsgründe bringen. Wenn der Bezirksgerichtspräsident nun die Voraussetzungen des Getrenntlebens verneint, das Verfahren aber dennoch ausstellt, um anderweitige, nicht den Tren-nungsanspruch betreffende Abklärungen anzuordnen, fällt er ohne weiteres eine materielle Entscheidung über den Trennungsantrag der Ehefrau. Der besagten Verfügung kommt überdies fraglos definitiver Charakter zu, da der Ehefrau dadurch das Getrenntleben seit der Einleitung des Eheschutzverfahrens im vergangenen April bis zum Erlass einer neuerlichen Verfügung unwiderruflich verwehrt wird. Im Gegensatz zur nachträglichen Modifikation einer vorläufigen Unterhaltsberechnung ginge nämlich selbst eine Bewilligung des Getrenntlebens mit Wirkung "ex tunc" ins Leere, so vermag dieser Entscheid nichts mehr an der derzeit gelebten Situation zu ändern. Schliesslich gilt es ebenfalls zu berücksichtigen, dass eine Fortführung des vorinstanzlichen Verfahrens nach wie vor nicht absehbar ist bzw. nicht vor Ende Oktober damit gerechnet werden kann, so ergab eine Auskunft der Kantonsgerichtspräsidentin, Abteilung Zivil- und Strafrecht, beim Bezirksgericht X., dass der Vormundschaftsbehörde abermals eine (vorperemptorische) Fristerstreckung zur Einreichung des zu erstellenden Berichts bis zum 16. September 2010 gewährt wurde.


Im Sinne dieser Erwägungen kommt das Kantonsgericht deshalb zum Schluss, dass Ziff. 1 der Verfügung des Bezirksgerichtspräsidenten ungeachtet seines Wortlauts einen Endentscheid darstellt, der gemäss § 9 Abs. 2 lit. b Ziff. 2 ZPO mit dem Rechtsmittel der Appellation angefochten werden kann. Unter diesen Umständen kann die Frage, ob die Verfügung des Bezirksgerichtspräsidenten im Sinne von § 233 Abs. 6 ZPO beschwerdefähig ist, offen gelassen werden. Nachdem auch die weiteren formellen Voraussetzungen eingehalten wurden, die Appellation insbesondere frist- und formgerecht erfolgte, wird auf die Appellation der Ehefrau vom 16. Juli 2010 eingetreten.


2. Es stellt sich damit die Frage, ob die Voraussetzungen für die Aufhebung des gemeinsamen Haushaltes gemäss Art. 175 ZGB zu bejahen sind.


2.1-2.3 ( … )


2.4 Gemäss Art. 175 ZGB ist ein Ehegatte berechtigt, den gemeinsamen Haushalt für solange aufzuheben, als seine Persönlichkeit, seine wirtschaftliche Sicherheit oder das Wohl der Familie durch das Zusammenleben ernstlich gefährdet ist. Der Begriff der Persönlichkeit wird dabei sehr weit ausgelegt und umfasst namentlich das Recht auf Selbstentfaltung, Selbstbestimmung und Eigenständigkeit. Darüber hinaus ist auch jede auf die konkrete Ehe bezogene ernsthafte eheliche Störung als ernsthafte Gefährdung der Persönlichkeit des trennungswilligen Ehegatten zu qualifizieren. Die weite Auslegung des Begriffs der Gefährdung der Persönlichkeit trägt insbesondere dem Umstand Rechnung, dass in einer so intensiven, d.h. einer geistig-seelischen, körperlichen und wirtschaftlichen Gemeinschaft wie einer Ehe der Anspruch auf Eigenständigkeit stärker tangiert wird, als dies in irgendeiner anderen Gemeinschaft oder Verbindung der Fall wäre (vgl. Verena Bräm, Der Schutz der ehelichen Gemeinschaft: Besonderheiten, Tendenzen, Widersprüche, FamPra.ch 3/2006, S. 519 ff., S. 534 f.; Philipp Maier, Aktuelles zu Eheschutzmassnahmen, Scheidungsgründen und Kinderbelangen anhand der Praxis der erst- und zweitinstanzlichen Gerichte des Kantons Zürich, AJP 1/2008, S. 72 ff., S. 74). Mit der Eherechtsrevision von 1984, der Revision des Scheidungsrechts von 1998 sowie der per Juni 2004 erfolgten Verkürzung der Trennungsfrist gemäss Art. 114 ZGB wurden die persönlichkeitsrechtlichen Aspekte der Ehegatten kontinuierlich zu Lasten der ehelichen Solidarität verstärkt. Heutzutage kann auch der Ehegatte, der sich einer Scheidung widersetzt, nach Ablauf einer zwei-jährigen Trennungsfrist nicht mehr verhindern, dass die Ehe tatsächlich geschieden wird, wobei der Scheidungsanspruch von Art. 114 ZGB unabhängig davon entsteht, ob der scheidungswillige Ehegatte berechtigt ist, getrennt zu leben oder nicht (vgl. Ivo Schwander, in: Heinrich Honsell/Nedim Peter Vogt/Thomas Geiser (Hrsg.), Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch I, Art. 1-456 ZGB, 3. Aufl., Basel 2006, Art. 175 N 3; KassGer ZH vom 11. Februar 2001, ZR 2001, Nr. 45, S. 149 ff.). In Berücksichtigung dieses gesellschaftlichen Wandels hat das Obergericht Zürich bereits im Jahre 2000 festgehalten, dass die eheliche Gemeinschaft vom Willen beider Ehegatten getragen werden müsse. Wenn dies nicht der Fall sei, lasse sich eine Ehe auf Dauer nicht aufrechterhalten (vgl. OG ZH vom 3. Dezember 1999, ZR 2000, Nr. 67, S. 191 f.; einlässlich auch KassGer ZH vom 11. Februar 2001, ZR 2001, Nr. 45, S. 149 ff.). Die Lehre und die Gerichte sind dieser Rechtsprechung mehrheitlich gefolgt. Das Eheschutzgericht muss sich somit darauf beschränken, zu prüfen, ob der Trennungswille eines Ehegatten gefestigt ist (vgl. Rolf Vetterli, in: Ingeborg Schwenzer (Hrsg.), FamKomm Scheidung, Bern 2005, Art. 175 N 4; Bruno Lötscher/Stephan Wullschleger, Aus der Praxis des Einzelgerichts in Familiensachen Basel-Stadt, BJM 2008, S. 1 ff., S. 2; Maier, a.a.O., S. 75; so auch BGer vom 23. März 2005, 5P.47/2005, E. 2.2.2; OG LU vom 19. Juli 2007, LGVE 2007 I, Nr. 12). Für eine weite Auslegung von Art. 175 ZGB sprechen schliesslich auch soziale Aspekte, so ist der wirtschaftlich schwächere Ehegatte darauf angewiesen, dass die finanziellen Folgen der Trennung gleichzeitig mit der Aufhebung des gemeinsamen Haushaltes geregelt werden (vgl. Bräm, a.a.O., S. 536).


2.5 Das Kantonsgericht kommt vorliegend zum Schluss, dass die Ehefrau zur Aufhebung des gemeinsamen Haushaltes berechtigt und ihr das Getrenntleben zu bewilligen ist. Die Ehefrau hat ihren klaren Trennungswillen bereits durch die Einleitung des Eheschutzverfahrens manifestiert. Sie hat diesen sodann anlässlich der Eheaudienz vom 13. Juli 2010 und auch heute noch einmal bestätigt. Auch das Zugeständnis der Ehefrau, nach der Trennung allenfalls eine gemeinsame Therapie zu machen, kann angesichts dieser klaren Äusserung nicht dahingehend gewertet werden, dass ihr Trennungsbegehren aus einer Laune heraus entstanden ist. Aus den Schilderungen der Ehefrau ergibt sich fernerhin, dass die Ehegatten ihre Freizeit sowie auch die Ferien getrennt verbringen und die Ehefrau seit Januar 2010 bei dem Sohn C. im Zimmer schläft. Dass die Parteien Differenzen haben, wird auch von Seiten des Ehemannes weder vor der Vorinstanz noch vor Kantonsgericht bestritten. Im Rahmen der heutigen Parteibefragung führt er u.a. aus, die vielen kleinen Probleme würden zu grösseren Problemen führen. Von der massiven Spannung zwischen den Ehegatten zeugt schliesslich auch die Tatsache, dass die Tochter B. neuerdings wieder in die Hosen macht, wenn sie mit beiden Eltern zusammen lebt (vgl. insgesamt Protokoll der Audienz vom 13. Juli 2010, S. 5; Protokoll des Kantonsgerichts, S. 4-7). Der Trennungsanspruch der Ehefrau ist angesichts ihres klaren Trennungswillens sowie der offensichtlich bestehenden ernsthaften ehelichen Schwierigkeiten, die im Sinne der angeführten Lehre und Rechtsprechung durchaus als Gefährdung der Persönlichkeit der Ehefrau zu qualifizieren sind, ohne weiteres zu bejahen. Daran vermag auch der Wunsch bzw. Versuch des Ehemannes, die ehelichen Unstimmigkeiten mit Hilfe einer (Paar-)Therapie zu lösen, nichts zu ändern.


( … )


3. ( … )


KGE ZS vom 14. September 2010 i.S. M. S. gegen J. S. (100 10 984/STO)


Das Bundesgericht ist auf die gegen diesen Entscheid erhobene Beschwerde des Appellaten mit Urteil vom 5. November 2010 nicht eingetreten (5A_704/2010).



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