Internationales Privatrecht

Fehlende internationale Zuständigkeit des Gerichts am Geschädigtenwohnort für eine Klage des durch einen Unfall Geschädigten gegen die Haftpflichtversicherung des Schädigers


Entgegen einem neueren Urteil des EuGH, der in Anwendung der EuGVVO entschied, ist im Anwendungsbereich des LugÜ in Fällen, in denen die bis 2010 geltende Fassung des LugÜ noch Anwendung findet, kein Forum am Wohnsitz des Verletzten für dessen Direktklage gegen den Haftpflichtversicherer des Schädigers gegeben (Art. 10 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 Ziff. 2 LugÜ).



Erwägungen

1.-3. ( … )


4.1 Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist allein die Frage der internationalen Zuständigkeit der schweizerischen Gerichte beziehungsweise der örtlichen Zuständigkeit des Bezirksgerichts C. für das entsprechende Hauptverfahren. Im Hauptverfahren klagt der Kläger mit Wohnsitz in D. gegen den Beklagten mit Sitz in Deutschland auf Bezahlung eines aufgrund des Verkehrsunfalls vom 30. April 2007 erlittenen Haushaltschadens. Da zivil- und handelsrechtliche Ansprüche im Sinne von Art. 1 LugÜ im Streit liegen und beide Parteien in einem Vertragsstaat des LugÜ ansässig sind, gelangt das LugÜ für die Bestimmung der internationalen Zuständigkeit des Gerichts zur Anwendung. Das am 1. Januar 2011 für die Schweiz in Kraft getretene revidierte Lugano-Übereinkommen vom 30. Oktober 2007 (SR 0.275.12 [revLugÜ]) ist auf das vorliegende Verfahren nicht anwendbar, weil die Klage vor dessen Inkrafttreten erhoben wurde (Art. 63 Abs. 1 revLugÜ).


4.2 Gemäss Art. 10 Abs. 2 LugÜ sind auf eine Klage, die der Verletzte unmittelbar gegen den Haftpflichtversicherer erhebt, die Art. 7 bis 9 LugÜ anzuwenden, soweit eine solche unmittelbare Klage zulässig ist. Nach Art. 8 Abs. 1 Ziff. 2 LugÜ kann bei Klagen, die Versicherungssachen zum Gegenstand haben, der Versicherer u.a. verklagt werden vor den Gerichten des Staates, in denen er seinen Wohnsitz hat (Ziff. 1) sowie in einem anderen Vertragsstaat vor dem Gericht des Bezirks, in dem der Versicherungsnehmer seinen Wohnsitz hat (Ziff. 2). Vorliegend wird vom Beklagten und Appellanten geltend gemacht, dass diese Regelung entgegen dem Urteil der Vorinstanz dem Geschädigten keinen Gerichtsstand an seinem Wohnsitz zur Klage gegen den Versicherer eröffne.


4.3 Unbestritten ist vorliegend, dass dem Kläger als Geschädigtem ein unmittelbares Klagerecht gegen den Beklagten offen steht. ( … ) Somit sind vorliegend aufgrund von Art. 10 Abs. 2 LugÜ die Art. 7 bis 9 LugÜ anwendbar.


4.4.1 Ausgangspunkt der Auslegung des LugÜ ist - nach allgemeinen Regeln - der Wortlaut des Übereinkommens (Tanja Domej, Präambel Protokoll Nr. 2 N 16, in: Felix Dasser / Paul Oberhammer [Hrsg.], Kommentar zum Lugano-Übereinkommen, Bern 2008). Mit der Vorinstanz ist festzustellen, dass eine wörtliche Auslegung von Art. 8 Abs. 1 Ziff. 2 LugÜ zum Ergebnis führt, dass dem Geschädigten ein eigenständiger Gerichtsstand an seinem Wohnsitz nicht offen steht (vgl. Anton K. Schnyder, Art. 10 N 13, in: Dasser/Oberhammer, a.a.O.).


4.4.2 Zur historischen Auslegung des LugÜ ist vorliegend der amtliche Bericht Jenard zum ausser Kraft gesetzten EuGVÜ heranzuziehen (P. Jenard, Bericht zu dem Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften, Nr. C 59; vgl. Tanja Domej, Präambel Protokoll Nr. 2 N 26, in: Dasser/Oberhammer, a.a.O.). Art. 8 EuGVÜ, der wörtlich mit Art. 8 LugÜ übereinstimmt, hält fest, dass unter Versicherungsnehmer der Vertragspartner der Versicherungsgesellschaft zu verstehen sei. Seien der Versicherte oder der Begünstigte mit dem Versicherungsnehmer nicht identisch, so bliebe ihr Wohnsitz unberücksichtigt. Es sei recht und billig, dass der Versicherer am Wohnsitz seines Geschäftspartners verklagt werden könne. Den genauen Wohnsitz des Versicherten oder Begünstigten, der den Versicherer verklagen wolle, brauche dieser im Zeitpunkt des Entstehens des Rechtsstreits aber nicht zu kennen (Bericht Jenard, 31; vgl. Jan Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht, Heidelberg 1998, 171 f.). Die geschädigte Person als zuständigkeitsrelevante Anknüpfungsperson wird weder in Art. 8 noch in Art. 9 des LugÜ bzw. des EuGVÜ erwähnt. Im Bericht Jenard ist festgehalten, dass es keine Bestimmung im Übereinkommen gebe, die den Gerichtsstand des Wohnsitzes des Verletzten vorsehe (Bericht Jenard, S. 32).


4.4.3 Im aktuellen Schrifttum ist umstritten, ob und inwieweit eine teleologische Auslegung der genannten Normen des LugÜ zu Gunsten einer Zuständigkeit am Wohnsitz der geschädigten Person zu erfolgen hat (ablehnend Patrik Eichenberger, Warum Odenbreit nicht in die Schweiz kommt - Gedanken zum revidierten LugÜ und dem Wohnsitzgerichtsstand des Verkehrsopfers, in: Jusletter 20. Dezember 2010; ders., LugÜ ist nicht gleich EuGVVO: kein Gerichtsstand am Wohnsitz der geschädigten Partei bei Direktklage gegen den Versicherer, in: HAVE 1/2009, 43 ff.; bejahend Stephan Fuhrer, Wohnsitzgerichtsstand, in: HAVE 2/2008, 150 ff.; offen gelassen bei Anton K. Schnyder, Art. 10 N 13, in: Dasser/Oberhammer, a.a.O.).


4.4.4 Aus der internationalen Praxis liegen zwei neuere einschlägige Urteile nationaler zweitinstanzlicher Gerichte vor, die eine Ausweitung der Gerichtsstände für Direktklagen des Geschädigten gegen den Haftpflichtversicherer in Anwendung der genannten Normen des LugÜ ablehnen. Diese Entscheide sind vorliegend aufgrund von Art. 1 des Protokolls Nr. 2 zum LugÜ über die einheitliche Auslegung des Übereinkommens als massgebliche Rechtsprechung höherer nationalstaatlicher Gerichte zu berücksichtigen. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 7. September 2007 (14 W 31/07) ist zwar vor dem EuGH-Urteil ergangen, doch wird darin darauf Bezug genommen, dass der deutsche Bundesgerichtshof die Frage der Zuständigkeit des Gerichts am Geschädigtenwohnsitz in seiner Vorlage an den EuGH bejahte. Das OLG Karlsruhe hebt in Erwägung 5 des Beschlusses hervor, dass der Bundesgerichtshof sich dabei auf die neueste Rechtsentwicklung im Europarecht - namentlich die fünfte Kraftfahrzeug-Richtlinie - beruft, die bei der Auslegung des LugÜ nicht zu berücksichtigen sei. Der Beschluss des Landesgerichts Feldkirch vom 9. Dezember 2008 (2 R 279/08g) erging nach dem Urteil des EuGH vom 13. Dezember 2007. Er verwirft ausdrücklich eine Berücksichtigung dieser Rechtsprechung im Anwendungsbereich des LugÜ, da der Verordnungsgeber der EuGVVO Motive verfolgt habe, die nicht auf das LugÜ übertragen und quasi rückwirkend den Art. 10 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 Ziff. 2 LugÜ unterstellt werden könnten. Ebenso lehnten es im Übrigen die frühere Rechtsprechung und Lehre zum Brüsseler Übereinkommen einhellig ab, aus den - den entsprechenden Normen des LugÜ wortgleichen - Regelungen des EuGVÜ einen Wohnsitzgerichtsstand zugunsten des Geschädigten im Direktprozess gegen den Haftpflichtversicherer abzuleiten (vgl. Stephan Fuhrer, a.a.O., 152).


4.4.5 Das Urteil des EuGH vom 13. Dezember 2007, in welchem die Zulässigkeit der Direktklage gegen den Haftpflichtversicherer am Geschädigtenwohnsitz bejaht wurde, erfolgte in Anwendung von Art. 11 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVVO. Der Wortlaut der letztgenannten Norm weicht von Art. 8 Abs. 1 Ziff. 2 LugÜ insofern ab, als neben dem Wohnsitz des Versicherungsnehmers auch diejenigen des Versicherten und des Begünstigten als zulässige Gerichtsstände genannt werden. Fraglich ist, ob diese Abweichung des Wortlautes - wie vom Kläger und Appellaten geltend gemacht - als unwesentlich zu betrachten ist, so dass die Rechtsprechung zur Regelung in der EuGVVO auch bei der Auslegung des LugÜ beachtlich wäre, oder ob dieser Unterschied wesentlich ist. Wie schon im Bericht Jenard festgehalten, besteht zwischen dem Versicherungsnehmer einerseits und dem Versicherten sowie dem Begünstigten andererseits ein wesentlicher Unterschied: Der Versicherungsnehmer ist im Gegensatz zu den Letztgenannten Vertragspartner der Versicherungsgesellschaft. Der Versicherer geht mit dem Versicherungsvertrag verschiedene Rechte und Pflichten gegenüber dem Versicherungsnehmer ein und er kann dessen Wohnsitz schon vor entstehen eines allfälligen Rechtsstreits kennen. Mit der Erweiterung um die Klägerforen am Wohnsitz des Versicherten und des Begünstigten ist der Sozialschutz im Vergleich zum EuGVÜ markant ausgebaut worden. Der EuGH beruft sich in seinem Urteil ausdrücklich auf den in der EuGVVO im Verhältnis zum EuGVÜ erweiterten Schutz der schwächeren Partei und hält damit implizit fest, dass nur diese Erweiterung des Wortlauts eine teleologische Auslegung zugunsten des Geschädigten zulässt (Urteil des EuGH vom 13. Dezember 2007, Randnote 28; vgl. Erwägungsgrund 13 der EuGVVO). Entgegen den Ausführungen imvorinstanzlichen Urteil ändert hieran auch die Tatsache nichts, dass der EuGH die Frage, ob der Geschädigte als "Begünstigter" im Sinne von Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVVO zu qualifizieren sei, als nicht relevant bezeichnet. Aus dieser Feststellung kann nicht geschlossen werden, dass die Praxis des EuGH zu Art. 11 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVVO auf einen Anwendungsfall des LugÜ übertragbar ist. Aufgrund dieser Überlegungen erweist sich der Unterschied im Wortlaut von Art. 9 Abs. 1 lit. b EuGVVO gegenüber Art. 8 Abs. 1 Ziff. 2 LugÜ als wesentlich und folglich das Urteil des EuGH vom 13. Dezember 2007 als für den vorliegenden Fall unbeachtlich. Eine teleologische Auslegung des LugÜ im Sinne des EuGH-Urteils ist mithin nicht angezeigt.


4.5 Zusammenfassend ist festzustellen, dass vorliegend in erster Linie der klare Wortlaut des LugÜ, daneben aber auch der Bericht zum wortgleichen EuGVÜ sowie die internationale Praxis gegen einen Gerichtsstand am Geschädigtenforum sprechen. Triftige Gründe für ein Abweichen vom Wortlaut liegen nicht vor, insbesondere ist das Urteil des EuGH vom 13. Dezember 2007 bei der Anwendung des LugÜ in seiner bisherigen Fassung nicht beachtlich. Eine teleologische Auslegung von Art. 10 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 Ziff. 2 LugÜ in Anlehnung an die Rechtsprechung des EuGH zur EuGVVO ist daher abzulehnen. Mithin liegt keine internationale Zuständigkeit der Schweiz und somit keine örtliche Zuständigkeit des Bezirksgerichts C. vor. Die Appellation ist daher gutzuheissen, das Urteil des Bezirksgerichts C. vom 29. September 2010 (Rektifikat vom 9. November 2010) aufzuheben und auf die Klage des Appellaten nicht einzutreten.


KGE ZR vom 12. Juli 2011 i.S. F.P. gegen B. (100 2010 1441/VHP)


Gegen dieses Urteil hat der Kläger und Appellat Beschwerde in Zivilsachen beim Bundesgericht erhoben (4A_531/2011).



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