Strafrecht

Haftpflicht des Motorfahrzeughalters - Beweislast, Schadenersatz, Kürzung der Haftungsquote


Unter rechtmässigem Alternativverhalten wird der Einwand des Schädigers verstanden, der konkrete Schaden wäre auch dann eingetreten, wenn er sich nicht rechtswidrig, sondern rechtmässig verhalten hätte. Nach ständiger Rechtsprechung gilt für den Nachweis des hypothetischen Kausalverlaufs das Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit. Danach gilt ein Beweis als erbracht, wenn für die Richtigkeit der Sachbehauptung nach objektiven Gesichtspunkten derart gewichtige Gründe sprechen, dass andere denkbare Möglichkeiten vernünftigerweise nicht massgeblich in Betracht fallen (E. 3.5.1).


Gemäss Art. 61 Abs. 1 SVG wird der Personenschaden den Haltern nach Massgabe des von ihnen zu vertretenden Verschuldens auferlegt, wenn nicht besondere Umstände, namentlich die Betriebsgefahren, eine andere Verteilung rechtfertigen. Bei einem ausschliesslichen Verschulden eines Halters haftet dieser alleine; liegt dagegen ein Verschulden auf beiden Seiten vor, so wird die Haftung im Verhältnis zum mitwirkenden Verschulden aufgeteilt. Die Bedeutung des Verschuldens wird allerdings insoweit relativiert, als aufgrund von besonderen Umständen eine andere Verteilung angezeigt sein kann. Eine andere Haftungsaufteilung auf Grund von besonderen Umständen ist mithin dann angebracht, wenn den allein schuldigen Halter nur ein geringfügiges bzw. ganz leichtes Verschulden trifft oder sich die Betriebsgefahren bei einem Halter besonders stark ausgewirkt haben. Dabei trägt derjenige Halter, der ein Mitverschulden des anderen Halters geltend machen will, um so die Schadensverteilung zu seinen Gunsten zu beeinflussen, gemäss Art. 8 ZGB die Beweislast (E. 3.5.2).


Ist das Vorliegen von besonderen Umständen zu verneinen, fällt eine Kürzung der Haftungsquote gestützt auf Art. 8 ZGB ausser Betracht. Selbst bei nachgewiesenem ursächlichem bzw. verschlimmerndem Verhalten des Geschädigten hat nicht zwingend eine Kürzung der Haftungsquote zu Gunsten des Schädigers zu erfolgen. So wurde das Nichttragen der Sicherheitsgurte in der Vergangenheit lediglich als leichtes Verschulden qualifiziert, welches einen Abzug von 10% rechtfertigt, wobei ein Teil der Lehre die Ansicht vertritt, dass ein Selbstverschulden von nur 10% grundsätzlich unberücksichtigt zu bleiben hat. Schliesslich gilt es auch zu beachten, dass die Kürzung der Schadenersatzpflicht wegen Selbstverschuldens des Geschädigten bei der Gefährdungshaftung aufgrund der besonders strengen Haftung von vornherein weniger weit reicht wie bei der Verschuldens- oder der gewöhnlichen Kausalhaftung (E. 3.5.3).



Erwägungen

(…)


3. Die Appellation des Beurteilten richtet sich ausschliesslich gegen die Beurteilung des Zivilpunkts bzw. die Festlegung der Haftungsquote sowie die Kostenverlegung. Der Strafpunkt, mithin die Verurteilung wegen einfacher fahrlässiger Körperverletzung, ist hingegen nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens. Nicht bestritten wird zudem der dem Strafgerichtsurteil zugrunde gelegte Sachverhalt. Danach geriet der Appellant aufgrund einer Unachtsamkeit (Hantieren am Autoradio in einer leichten Rechtskurve) auf die linke Fahrspur und kollidierte in der Folge mit dem - grundsätzlich korrekt entgegenkommenden - Personenwagen des Appellaten. Dabei gilt als erstellt, dass der Appellat im Zeitpunkt der Kollision den Sicherheitsgurt nicht angelegt hatte. Im Übrigen ist unbestritten, dass der Appellat eine zwei Millimeter grosse Kontusionsmarke über der rechten Stirn erlitt und im Nachgang zum Unfall Druckschmerzen über dem Brustbein sowie Schmerzen am Brustkorb geltend machte (…).


(…)


3.5. Zu prüfen ist somit die Frage, ob das Nichttragen der Sicherheitsgurte durch den Appellaten gestützt auf Art. 58 i.V.m. Art. 61 SVG eine Abweichung von der vom Strafgericht festgelegten Haftungsaufteilung (100% zu Lasten des Appellanten) rechtfertigen kann.


3.5.1 Dazu ist vorab festzuhalten, dass der Einwand des Appellanten hinsichtlich des vom Appellaten zu beweisenden rechtmässigen Alternativverhaltens an der Sache vorbeigeht. Unter rechtmässigem Alternativverhalten wird der Einwand des Schädigers verstanden, der konkrete Schaden wäre auch dann eingetreten, wenn er sich nicht rechtswidrig, sondern rechtmässig verhalten hätte. Es wird also letztlich bestritten, dass ein pflichtwidriges Verhalten für das schädigende Ereignis ursächlich sei (vgl. Heinz Rey, Ausservertragliches Haftpflichtrecht, 3. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2003, Rz 644). Im vorliegenden Fall ist die Rolle des Schädigers dem Appellanten zuzuweisen. Es blieb auch während des Appellationsverfahrens unbestritten, dass dieser aufgrund einer Unachtsamkeit auf die linke Fahrspur geriet und dabei mit dem - grundsätzlich korrekt entgegenkommenden - Fahrzeug des Opfers kollidierte. Unter dem Titel des rechtmässigen Alternativverhaltens wäre es demnach allenfalls Sache des Appellanten gewesen, nachzuweisen, dass der gleiche Schaden entstanden wäre, selbst wenn er seine Fahrspur nicht verlassen hätte. Dieser Einwand kann bzw. muss demgegenüber nicht von dem - möglicherweise mitschuldigen - Opfer vorgebracht werden. Mit anderen Worten war und ist es nicht Sache des Appellaten, zu beweisen, dass nicht der gleiche Schaden entstanden wäre, wenn er die Sicherheitsgurte getragen hätte.


Die Behauptung des Appellanten, der Appellat hätte die eingetretenen Voraussetzungen verhindern können, wenn er die Sicherheitsgurte getragen hätte, ist indessen unter dem Titel des hypothetischen Kausalzusammenhangs zu untersuchen (vgl. Rey, a.a.O., Rz 591 ff.). Nach ständiger Rechtsprechung gilt für den Nachweis des hypothetischen Kausalverlaufs das Beweismass der überwiegenden Wahrscheinlichkeit. Danach gilt ein Beweis als erbracht, wenn für die Richtigkeit der Sachbehauptung nach objektiven Gesichtspunkten derart gewichtige Gründe sprechen, dass andere denkbare Möglichkeiten vernünftigerweise nicht massgeblich in Betracht fallen (vgl. BGE 132 III 715, E. 3.1 und 3.2; BGE 130 III 321, E. 3.3; vgl. dazu nachfolgend E. 3.5.3).


3.5.2 Nach Art. 58 Abs. 1 SVG haftet der Halter eines Motorfahrzeugs grundsätzlich vollumfänglich für einen Schaden, der durch den Betrieb des Fahrzeugs verursacht worden ist, und zwar unabhängig vom Vorliegen einer objektiven Ordnungswidrigkeit. Entsteht ein Körper- oder Sachschaden durch die Beteiligung mehrerer Motorfahrzeuge (sog. Haftungskollision), sind die Voraussetzungen von Art. 61 SVG zu prüfen. Gemäss Art. 61 Abs 1 SVG wird der Personenschaden den Haltern nach Massgabe des von ihnen zu vertretenden Verschuldens auferlegt, wenn nicht besondere Umstände, namentlich die Betriebsgefahren, eine andere Verteilung rechtfertigen. Das Verschulden ist somit das primäre Kriterium der Haftungsaufteilung. Bei einem ausschliesslichen Verschulden eines Halters haftet dieser alleine; liegt dagegen ein Verschulden auf beiden Seiten vor, so wird die Haftung im Verhältnis zu den mitwirkenden Verschulden aufgeteilt (vgl. Roland Brehm, Motorfahrzeughaftpflicht, Bern 2008, Rz 843 und 887; Hans Giger, Kommentar Strassenverkehrsrecht, 7. Aufl., Zürich 2008, Art. 61 N 2 ff.). Die Bedeutung des Verschuldens wird allerdings insoweit relativiert, als aufgrund von besonderen Umständen eine andere Verteilung angezeigt sein kann. Eine andere Haftungsaufteilung auf Grund von besonderen Umstände ist mithin dann angebracht, wenn den allein schuldigen Halter nur ein geringfügiges bzw. ganz leichtes Verschulden trifft oder sich die Betriebsgefahren bei einem Halter besonders stark ausgewirkt haben (vgl. BGE 123 III 274, E. 1.a.bb; Urteil des Bundesgerichts vom 26. September 2001, 4C.3/2001, E. 2.a.aa). Dabei trägt derjenige Halter, der ein Mitverschulden des anderen Halters geltend machen will, um so die Schadensverteilung zu seinen Gunsten zu beeinflussen, gemäss Art. 8 ZGB die Beweislast (vgl. Karl Oftinger/Emil W. Stark, Schweizerisches Haftpflichtrecht, Zweiter Band: Besonderer Teil, Zweiter Teilband, Gefährdungshaftungen: Motorfahrzeughaftpflicht und Motorfahrzeughaftpflichtversicherung, 4. Aufl., Zürich 1989, Rz 672; Giger, a.a.O., Art. 61 N 6).


3.5.3 In casu ist das Vorliegen von besonderen Umständen zu verneinen. Zum einen werden die Betriebsgefahren zufolge Gleichartigkeit neutralisiert; zum anderen hält das Kantonsgericht mit dem Strafgericht dafür, dass den Appellanten nicht bloss ein leichtes Verschulden trifft. Die Vorinstanz ging zu Recht von einem mittelschweren Fahrlässigkeitsvorwurf aus. Selbst das kurze Hantieren am Autoradio lenkt den Fahrer für mehrere Sekunden vom Strassenverkehr ab. Bei einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 80 km/h ausserorts führt dies dazu, dass der Fahrzeugführer eine grössere Distanz, namentlich 22 Meter pro Sekunde, völlig blind zurücklegt (…). Die Verteilung der Haftung richtet sich somit nicht nach besonderen Umständen, sondern ausschliesslich nach dem Verschulden der Unfallbeteiligten. Zu prüfen ist daher, ob die Verletzungen des Appellaten mit überwiegender Wahrscheinlichkeit durch das Nichttragen der Sicherheitsgurte natürlich und adäquat kausal entstanden sind bzw. dadurch verschlimmert wurden. Massgebliches Beweismittel ist dabei die vom Strafgerichtspräsidenten in Auftrag gegebene biomechanische Beurteilung der Arbeitsgruppe für Unfallmechanik (AGU) vom 21. Juli 2009. Diese führt auf Frage des Strafgerichtspräsidenten, wie weit die durch den Unfall verursachten Verletzungen des Appellaten auf das Nichttragen der Sicherheitsgurte zurückzuführen seien, aus: "Es kann nicht differenziert werden, ob die Belastung des Brustkorbs bei Verwendung des Sicherheitsgurtes geringer gewesen wäre, hingegen ist anzunehmen, dass der Kopfaufprall gegen den Airbag bei Verwendung des Sicherheitsgurtes geringer ausgefallen wäre. Vorliegend ist es aber, gemäss den medizinischen Angaben, trotz Fehlen des Gurtes nicht zu einem relevanten Kopfaufprall gekommen. Für die übrigen festgestellten Verletzungen und subjektiven Beschwerden hätte sich bei getragenem Gurt keine bedeutend geringere Belastung ergeben" (…). Die biomechanische Begutachtung kommt demnach zum Schluss, dass die Verletzungen des Appellaten nicht geringer ausgefallen wären bzw. nicht hätten verhindert werden können, selbst wenn dieser die Sicherheitsgurte getragen hätte. Dem Appellanten ist es damit nicht gelungen, den Nachweis für ein ursächliches bzw. verschlimmerndes Verhalten des Appellaten bezüglich der körperlichen Folgen des Unfalls zu erbringen. Demzufolge fällt eine Kürzung der ihm vom Strafgericht auferlegten Haftungsquote gestützt auf Art. 8 ZGB ausser Betracht. Bereits aus diesem Grund ist die Appellation gegen das Urteil des Strafgerichtspräsidenten abzuweisen.


Der Vollständigkeit halber wird aber darauf hingewiesen, dass auch das Gelingen dieses Nachweises nicht zwingend eine Kürzung der Haftungsquote zu Gunsten des Schädigers zur Folge gehabt hätte. So wurde das Nichttragen der Sicherheitsgurte in der Vergangenheit lediglich als leichtes Verschulden qualifiziert, welches einen Abzug von 10% rechtfertigt (Rey, a.a.O., Rz 1328, mit Verweis auf BGE 117 II 617, E. 5.a). Schwenzer vertritt dabei die Ansicht, dass ein Selbstverschulden von nur 10% grundsätzlich unberücksichtigt zu bleiben hat (vgl. Ingeborg Schwenzer, Schweizerisches Obligationenrecht Allgemeiner Teil, 5. Aufl., Bern 2009, Rz 16.19, mit Verweis auf BGE 132 III 249, E. 3.5). Schliesslich gilt es auch zu beachten, dass die Kürzung der Schadenersatzpflicht wegen Selbstverschuldens des Geschädigten bei der Gefährdungshaftung aufgrund der besonders strengen Haftung von vornherein weniger weit reicht wie bei der Verschuldens- oder der gewöhnlichen Kausalhaftung (vgl. Roland Brehm, Berner Kommentar zum schweizerischen Privatrecht, Band VI, 3. Teilband, 1. Unterteilband, Die Entstehung durch unerlaubte Handlungen, Artikel 41-61 OR, 3. Aufl., Bern 2006, Art. 44 N 32).


Zusammenfassend kann somit festgehalten werden, dass die Appellation gegen das Urteil des Strafgerichtspräsidenten vom 19. März 2010 vollumfänglich abgewiesen wird. Die Haftungsquote von 100% zu Lasten des Appellanten bleibt damit unverändert, zumal auch keine der Parteien die Frage nach der Haltereigenschaft der Beteiligten aufgeworfen hat. Eine Änderung der Kostenverteilung gemäss der angefochtenen Ziff. 3 ist diesfalls ebenfalls nicht geboten.


(…)


Urteil der Dreierkammer des Kantonsgerichts, Abteilung Strafrecht, vom 11. Januar 2011 (100 10 588/STO)


Haftpflicht des Motorfahrzeughalters


Beweislast, S chadenersatz, Kürzung der Haftungsquote


SR 741.01 Bundesgesetz vom 19. Dezember 1958 über den Strassenverkehr


Art. 58 Haftpflicht des Motorfahrzeughalters


Art. 61 Schadenersatz zwischen Motorfahrzeughaltern


SR 210 Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907


Art. 8 Beweisregeln/Beweislast



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