Strafprozessrecht

Umfang des Akteneinsichtsrechts, insbesondere des Anspruchs auf Anfertigung von Aktenkopien (Art. 102 Abs. 3 StPO)


Der Anspruch des Rechtbeistandes auf Zustellung der Akten gemäss Art. 102 Abs. 2 Satz 2 StPO kann in Verfahren mit sehr umfangreichen Akten eingeschränkt werden, was im vorliegenden Fall mit rund 80 Bundesordnern zur Anwendung gelangt (E. 2.2).


Nichts anderes kann bezüglich des Rechts auf die Erstellung von Kopien der Verfahrensakten aufgrund von Art. 102 Abs. 3 StPO gelten. Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit, dessen Geltung der Gesetzgeber mit der Formulierung "in der Regel" bezüglich des Anspruchs auf Aktenzustellung in Art. 102 Abs. 2 Satz 2 StPO explizit zum Ausdruck gebracht hat, muss ebenso beim Anspruch auf Anfertigung von Kopien der Akten Geltung haben (E. 2.3).


Die Staatsanwaltschaft kann als verfahrensleitende Behörde gestützt auf Art. 61 lit. a StPO eine Kostengutsprache zugunsten der beschuldigten Person für die Ausübung des rechtlichen Gehörs leisten, wozu eine Kostenentschädigung für die Erstellung von Aktenkopien der Verteidigung gehört (E. 2.4).



Sachverhalt

A. Im Strafverfahren gegen X. informierte die Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft, Hauptabteilung A., mit Schlussmitteilung vom 1. April 2011 die Rechtsvertreterin des Beschuldigten, Y., dass die Strafuntersuchung abgeschlossen sei, und stellte die Anklageerhebung beim Gericht in Aussicht. Allfällige Beweisanträge seien bis zum 20. April 2011 bei der Staatsanwaltschaft geltend zu machen. Die Akten könnten bis zu diesem Datum nach Vereinbarung eines Termins bei der Staatsanwaltschaft eingesehen werden. Da die Verfahrensunterlagen rund 80 Bundesordner umfassten und mehrere Personen ein Akteneinsichtsrecht geltend machen könnten, sei eine Zusendung der Verfahrensakten aus organisatorischen Gründen nicht möglich.


B. Mit Eingabe bei der Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft vom 4. April 2011 hielt Y. fest, dass die angesetzte Frist zur Einreichung von Beweisanträgen angesichts des zwei Jahre und zehn Monate andauernden Untersuchungsverfahrens und des Aktenumfangs von ca. 80 Bundesordnern viel zu kurz bemessen sei. Abgesehen davon sei sie ohne vollumfängliche Akteneinsicht gar nicht in der Lage, irgendwelche Beweisanträge mit ihrem Mandanten zu besprechen und einzureichen. Das Studium einer solchen Aktenmenge in den Räumen der Staatsanwaltschaft sei aus organisatorischen Gründen unzumutbar. Sie beantragte, dass ihr die Verfahrensakten in Kopien oder per CD-ROM bzw. externer Festplatte zugestellt würden, wie dies schon in anderen Verfahren geschehen sei und unter anderem vom Kanton Basel-Stadt praktiziert werde.


C. (…)


D. Mit Schreiben vom 11. April 2011 an die Staatsanwaltschaft beantragte Y. Kostengutsprache für die Kopierarbeiten im Umfang von CHF 0.25 zuzüglich Mehrwertsteuer pro Seite. Sie rechne mit ca. 24'000 Seiten bzw. mit Kosten von ca. CHF 6'480.00. Andernfalls bleibe es beim ursprünglichen Antrag gemäss der Eingabe vom 4. April 2011, es seien die Verfahrensakten entweder in Kopie oder auf CD-ROM bzw. externer Festplatte zur Einsicht zuzustellen. Für den Fall der Ablehnung dieser Anträge bat Y. um Zustellung einer beschwerdefähigen Verfügung.


E. Mit Verfügung vom 12. April 2011 hielt die Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft fest, es sei nachvollziehbar, dass es im vorliegenden Fall für Y. recht umständlich sei, die Akten in den Büros der Staatsanwaltschaft einzusehen. Es werde daher angeboten, Y. ein vollständiges Kopienset der Akten, es handle sich um das Exemplar der Staatsanwaltschaft, bis zum 9. Mai 2011 zur Verfügung zu stellen. Schon allein aus technischen Gründen sei es der Staatsanwaltschaft nicht möglich, die Verfahrensakten in digitaler Form zur Verfügung zu stellen. Was die beantragte Kostengutsprache angehe, so liege es nicht in der Kompetenz der Staatsanwaltschaft, eine solche zu erteilen. Über Kosten entscheide das urteilende Gericht. Im Sinne dieser Ausführungen wies die Staatsanwaltschaft die Anträge auf Kostengutsprache sowie auf Zurverfügungstellung der Verfahrensakten auf CD-ROM oder in Form eines persönlichen Kopiensets ab.


F. Mit Eingabe vom 20. April 2011 erhob Y. im eigenen und im Namen ihres Mandanten X. Beschwerde gegen die Verfügung der Staatsanwaltschaft vom 12. April 2011. Sie stellte folgende Rechtsbegehren: Erstens sei die Verfügung der Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft vom 12. April 2011 aufzuheben; zweitens sei die Staatsanwaltschaft anzuweisen, Y. die Verfahrensakten vollumfänglich in Kopie oder per CD-ROM zuzustellen, eventualiter sei eine Kostengutsprache für die Anfertigung von Kopien durch Y. zum Ansatz von CHF 0.25 pro Seite zu gewähren; unter o/e-Kostenfolge zu Lasten der Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft, wobei davon Vermerk zu nehmen sei, dass X. mit Beschluss des Verfahrensgerichts in Strafsachen vom 18. April 2008 bzw. 18. November 2009 die Offizialverteidigung bewilligt worden sei.


(…)


G. Mit Stellungnahme vom 9. Mai 2011 beantragte die Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft, die Anträge der Beschwerdeführer seien vollumfänglich abzuweisen.


(…)



Erwägungen

1. (…)


Gemäss Art. 382 Abs. 1 StPO ist jede Partei zur Beschwerde legitimiert, die ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids hat. Die Legitimation von X. als im Strafverfahren beschuldigte Person ist ohne weiteres gegeben. Demgegenüber ist Y. als Rechtsvertreterin des Beschuldigten durch die Verfügung der Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft vom 12. April 2011 nicht beschwert und folglich auch nicht beschwerdelegitimiert.


2.1 Das Recht auf Akteneinsicht ist Ausfluss des verfassungsmässig garantierten Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV. Es wird in Art. 101 f. StPO konkretisiert. Gemäss Art. 101 Abs. 1 StPO haben die Parteien spätestens nach der ersten Einvernahme der beschuldigten Person und Erhebung der übrigen wichtigsten Beweise durch die Staatsanwaltschaft das Recht, die Akten des Strafverfahrens einzusehen. Strittig ist im vorliegenden Fall die Ausübung des Akteneinsichtsrechts, die in Art. 102 StPO geregelt wird. Gemäss Art. 102 Abs. 2 StPO sind die Akten am Sitz der betreffenden Strafbehörde einzusehen. Anderen Behörden sowie den Rechtsbeiständen der Parteien werden die Akten demgegenüber in der Regel zugestellt. Art. 102 Abs. 3 StPO verschafft darüber hinaus den Einsichtsberechtigten das Recht, gegen Entrichtung einer Gebühr die Anfertigung von Kopien der Akten zu verlangen.


2.2 Die genannten Rechte der Aktenzustellung und der Erstellung von Kopien können indessen die Ressourcen der Strafverfolgungsbehörden erheblich belasten. Dies ist insbesondere bei Verfahren gegeben, die ein sehr grosses Aktenvolumen aufweisen. Daher eröffnet der Wortlaut von Art. 102 Abs. 2 StPO ("in der Regel") einen gewissen Spielraum zur Einschränkung des Anspruchs. Gemäss der bundesrätlichen Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts kann ausnahmsweise vom Grundsatz der Zustellung an andere Behörden oder die Rechtsbeistände nach Art. 102 Abs. 2 StPO abgewichen werden, etwa in Fällen mit sehr umfangreichen Akten oder weil die Strafverfolgungsbehörde oder das Gericht die Akten gleichzeitig dringend benötigt (BBl 2005, 1162). Auch in der Lehre wird vertreten, das Recht auf Aktenzustellung gemäss Art. 102 Abs. 2 StPO könne ausnahmsweise beschränkt oder aufgehoben werden, wenn praktische Gründe dies erheischten; beispielsweise wenn die Akten sehr umfangreich seien (BSK StPO-Schmutz, Art. 102 N. 4). Im vorliegenden Fall umfassen die Verfahrensakten rund 80 Bundesordner, was gemäss der unbestrittenen Schätzung der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers ca. 24'000 Seiten entspricht. Damit handelt es sich fraglos um ein Verfahren mit sehr umfangreichen Akten, in dem das Aktenzustellungsrecht von der Staatsanwaltschaft beschränkt werden könnte.


2.3 Nichts anderes kann aber bezüglich des Rechts auf die Erstellung von Kopien der Verfahrensakten aufgrund von Art. 102 Abs. 3 StPO gelten. Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit, dessen Geltung der Gesetzgeber mit der Formulierung "in der Regel" bezüglich des Anspruchs auf Aktenzustellung in Art. 102 Abs. 2 StPO explizit zum Ausdruck gebracht hat, muss ebenso bezüglich des Anspruchs auf Anfertigung von Kopien der Akten gelten. Das Recht auf die Erstellung von Aktenkopien geht über den verfassungsmässigen Anspruch auf Akteneinsicht hinaus (vgl. BSK StPO-Schmutz, Art. 102 N. 5). Nach früherer Praxis wurde es nur ausnahmsweise gewährt (vgl. Niklaus Schmid, Handbuch des Schweizerischen Strafprozessrechts, 2009, 252, Fn. 511, mit Hinweisen auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung). Die Ausübung des Rechts auf Anfertigung von Kopien belastet die Ressourcen der Strafverfolgungsbehörden im Falle sehr umfangreicher Akten offensichtlich in deutlich höherem Masse als der Anspruch auf Aktenzustellung. Da aber das für die Strafverfolgungsbehörden mit geringerem Aufwand verbundene Recht auf Aktenzustellung ausnahmsweise aus Gründen der Verhältnismässigkeit einschränkbar ist, kann a minori ad maius nichts anderes für die für die Staatsanwaltschaft noch viel aufwendigere Ausübung des Rechts auf Kopienerstellung gelten. Daher hat die Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft mit der Weigerung, im vorliegenden Fall auf Ersuchen der Verteidigung ein komplettes Kopienset der Akten zu erstellen, Art. 102 Abs. 3 StPO nicht verletzt. Die Beschwerde ist daher im Hauptbegehren abzuweisen.


2.4 Eventualiter verlangt der Beschwerdeführer, es seien ihm bzw. seiner Rechtsvertreterin die Kosten für das Erstellen von Kopien der kompletten Akten in ihrem Büro zu vergüten, und zwar zu einem Ansatz von CHF 0.25 pro Seite. Dazu führt die Staatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme aus, sie sei zur Vornahme einer Kostengutsprache nicht kompetent, da für die Entschädigung der amtlichen Verteidigung gemäss Art. 135 Abs. 2 StPO die das Verfahren abschliessende Behörde zuständig sei. Da im vorliegenden Fall Anklage gegen den Beschwerdeführer erhoben werde, werde das Strafgericht und nicht die Staatsanwaltschaft das Verfahren abschliessen. Dabei übersieht die Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft, dass ihr gemäss Art. 61 lit. a StPO bis zur Einstellung oder Anklageerhebung die Verfahrensleitung zukommt. Aufgrund von Art. 62 Abs. 1 StPO kann die Verfahrensleitung sämtliche für die gesetzmässige und geordnete Durchführung des Verfahrens erforderlichen Anordnungen treffen. Dazu gehört ohne weiteres auch die Erteilung einer Kostenentschädigung für die Ausübung des rechtlichen Gehörs durch eine Partei. Eine solche Kostengutsprache im laufenden Verfahren drängt sich im vorliegenden Fall auf, da die Kosten der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers für die Ausübung des Akteneinsichtsrechts den Umfang des allgemein Üblichen klarerweise sprengen, so dass sie sich ohne eine entsprechende Anordnung mit einem erheblichen Kostenrisiko konfrontiert sähe und möglicherweise auf das Erstellen der Kopien verzichten müsste. Da der Beschwerdeführer zu Recht anmerkt, dass angesichts des sehr grossen Umfangs der Akten sowohl eine Einsichtnahme in den Räumlichkeiten der Staatsanwaltschaft wie auch eine befristete Zustellung der Akten die Ausübung des Rechts auf Akteneinsicht nicht im verfassungsmässig garantierten Mass ermöglicht, ist die Anfertigung eines vollständigen Kopiensets zur Wahrung der Rechte des Beschwerdeführers notwendig. Auch erweist sich der von der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers geltend gemachte Ansatz von CHF 0.25 pro Seite als üblich und angemessen. Daher wird das eventualiter gestellte Begehren des Beschwerdeführers in teilweiser Aufhebung der Verfügung der Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft gutgeheissen. Die Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft wird angewiesen, gestützt auf Art. 61 lit. a StPO der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers sämtliche Verfahrensakten während einer ausreichenden Dauer zum Erstellen von Kopien zur Verfügung zu stellen und ihr eine Kostenvergütung von CHF 0.25 pro Seite zuzusprechen.


3.


(…)


Beschluss der Dreierkammer des Kantonsgerichts, Abteilung Strafrecht, vom 7. Juni 2011 (470 11 48/VO2)


Auf die von der Staatsanwaltschaft Basel-Landschaft gegen diesen Beschluss erhobene Beschwerde ist das Bundesgericht mit Urteil vom 2. September 2011 nicht eingetreten (1B_382/2011).


Akteneinsichtsrecht


Anfertigung von Kopien


Legitimation


Beschwerdelegitimation der Verteidigung in eigenem Namen


SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007


Art. 61 lit. a StPO Verfahrensleitung bis zur Einstellung oder Anklageerhebung


SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007


Art. 102 Abs. 3 StPO Anspruch auf Anfertigung von Kopien der Akten gegen Gebühr


SR 312.0 Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007


Art. 382 Abs. 1 StPO Legitimation zum Ergreifen eines Rechtsmittels



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