Zuständigkeit des Kantonsgerichts, Abteilung Sozialversicherungsrecht, zur Beurteilung von Streitigkeiten aus kollektiven Krankentaggeldversicherungsverhältnissen nach VVG ohne vorgängigen Schlichtungsversuch bei der Schlichtungsbehörde

Das Kantonsgericht, Abteilung Sozialversicherungsrecht, ist auch unter Geltung der Schweizerischen Zivilprozessordnung sachlich zuständig für Streitigkeiten aus kollektiven Krankentaggeldversicherungsverträgen nach den Vorschriften des VVG (Art. 7 ZPO, § 54 Abs. 1 lit. d VPO; E. 2.1, 2.2).


Gemäss Wortlaut von Art. 197 f. ZPO ist für Streitigkeiten betreffend Zusatzversicherungen zur sozialen Krankenversicherung vor Anrufung des Gerichts eine Schlichtungsverhandlung bei der Schlichtungsbehörde durchzuführen (Art. 197 ZPO, Art. 198 ZPO; E. 3.1).


Aus der Systematik des Gesetzes geht allerdings hervor, dass sich die Notwendigkeit einer vorgängigen Schlichtungsverhandlung sachlich nicht begründen lässt (Art. 5-7 ZPO; E. 3.2).


Auch die Entstehungsgeschichte von Art. 7 ZPO sowie Art. 198 ZPO weist darauf hin, dass es sich um ein gesetzgeberisches Versehen handelt, Streitigkeiten betreffend Zusatzversicherungen zur sozialen Krankenversicherung einem vorgängigen Schlichtungsversuch zu unterstellen. Aufgrund dessen besteht eine Lücke im Gesetz (Art. 7 ZPO, Art. 198 ZPO; E. 3.3, 3.4).


Die Notwendigkeit einer Schlichtungsverhandlung bei Streitigkeiten betreffend Zusatzversicherungen zur sozialen Krankenversicherung ist nicht gegeben. Die Klage ist ohne vorherige Schlichtung direkt am Kantonsgericht, Abteilung Sozialversicherungsrecht, einzureichen (E. 4).



Sachverhalt

M. ist als Inhaber der I. GmbH gestützt auf einen Kollektiv-Taggeldversicherungsvertrag nach VVG bei der S. AG versichert.


M. erhob beim Kantonsgericht, Abteilung Sozialversicherungsrecht, Teilklage gegen die S. AG und beantragte die Bezahlung von Fr. 42'384.90 nebst Zins zu 5% seit Klageeinreichung, unter o/e-Kostenfolge. Die S. AG schloss in ihrer Klageantwort auf Nichteintreten, eventualiter Abweisung der Klage. Jedenfalls sei das Verfahren zunächst auf die sachliche Zuständigkeit des Kantonsgerichts, Abteilung Sozialversicherungsrecht, zu beschränken.


Aus prozessökonomischen Gründen beschränkte das Kantonsgericht, Abteilung Sozialversicherungsrecht, das Verfahren auf die Frage der Zuständigkeit, welche dem Dreiergericht unterbreitet wurde.



Erwägungen

1. (formelle Erwägung)


2.1 Die Beklagte argumentiert mit Hinweis auf einen Entscheid des Eidgenössischen Versicherungsgerichts B-1298/2006 dahingehend, dass es sich bei der kollektiven Krankentaggeldversicherung nach VVG weder um eine Sozialversicherung noch eine Zusatzversicherung zur obligatorischen Krankenpflegeversicherung, sondern viel mehr um eine selbständige, umfassende Versicherung des Privatversicherungsrechts handle. Diesem zitierten Entscheid steht jedoch die Praxis vieler kantonaler Versicherungsgerichte entgegen (vgl. Urteil 731 07 395 des Kantonsgerichts, Abteilung Sozialversicherungsrecht, vom 2. April 2008; Urteil KK 2007.00020 des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 29. August 2009). Diese ständige Praxis beruht auf der Erwägung, dass ein genereller Konnex zwischen der KVG-Grundversicherung besteht, deren Leistungen im Sinne eines integralen sozialversicherungsrechtlichen Charakters ergänzt werden. Auch die privatrechtliche Krankentaggeldversicherung hat den Charakter einer Zusatzversicherung zur sozialen Krankenversicherung, da die Lohnfortzahlungspflicht gemäss Art. 324 a und b OR eine sozialpolitisch begründete Massnahme im Rahmen des Arbeitsrechts darstellt (Streiff/von Kaenel, Arbeitsvertrag, Praxiskommentar zu Art. 319-362 OR, 6. Auflage, Zürich 2006, N 5 zu Art. 324 a/b OR) und von einem Teil der Lehre gar als Ergänzung zum Sozialversicherungsrecht bezeichnet wird (Rehbinder, Berner Kommentar, Der Arbeitsvertrag, Art. 319-362 OR, Bern 1985, N 1 zu Art. 324a OR). Hinzu tritt, dass es mit der Rechtsgleichheit nicht vereinbar wäre, wenn die zivilrechtlichen Verfahren aus Krankenzusatzversicherungen von privaten Trägern, die nur die Krankenzusatzversicherungen betreiben, anders behandelt würden als diejenigen Verfahren, die aus Streitigkeiten mit anerkannten Krankenversicherern entstehen (vgl. Urteil 731 07 395 des Kantonsgerichts, Abteilung Sozialversicherungsrecht, vom 2. April 2008 mit weiteren Hinweisen). Diese kantonale Praxis wird in ständiger Rechtsprechung auch vom Bundesgericht gestützt (BGE 9C_254/2009 vom 26.5.2009, E. 1; BGE 4A_291/2009 vom 28.7.2009, E. 1).


2.2 Das Kantonsgericht sieht keinen Anlass, von dieser Praxis abzuweichen. Zwar wurde sie noch vor Inkrafttreten der Schweizerischen ZPO unter Geltung des kantonalen Verfahrensrechts entwickelt, jedoch hat sich mittlerweile durch die Einführung der neuen ZPO an der rechtlichen Lage nichts geändert. Vielmehr wird Art. 7 ZPO als Möglichkeit der Kantone gesehen, nach wie vor ihre bisherige Praxis beizubehalten (vgl. Rüetschi, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger, ZPO-Komm., Art. 7 N 10). Da auch die Beklagte nichts vorzubringen vermag, was eine Anpassung der bisherigen Praxis notwendig erscheinen lässt, ist die Abteilung Sozialversicherungsrecht des Kantonsgerichts für vorliegende Streitigkeit sachlich grundsätzlich zuständig.


3.1 Es ist nachfolgend weiter zu prüfen, ob aufgrund der Einführung der neuen ZPO vor dem kantonsgerichtlichen Verfahren zwingend ein Schlichtungsversuch bei der Schlichtungsbehörde gemäss Art. 197 ff. ZPO durchzuführen ist. Aufgrund des Wortlauts des Gesetzes wäre diese Annahme zu treffen, da Streitigkeiten aus Zusatzversicherungen zur sozialen Krankenversicherung gemäss Art. 7 ZPO nicht im Katalog der Ausnahmen vom Schlichtungsverfahren gemäss Art. 198 ZPO erfasst sind (so auch ausdrücklich Rüetschi, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger, ZPO-Komm., Art. 7 N 12).


3.2 Bereits die Systematik des Gesetzes lässt jedoch Zweifel daran aufkommen, dass dies dem tatsächlichen Willen des Gesetzgebers entspricht. Die Prozessordnung nennt in den Art. 5-7 drei Bereiche, in welchen eine einzige kantonale Instanz vorgesehen ist. Es sind dies Spezialmaterien beispielsweise aus dem Immaterialgüter-, Wettbewerbs-, oder Spezialhaftungsrecht (Art. 5); Bereiche der Handelsgerichtsbarkeit (Art. 6) und die Streitigkeiten aus Zusatzversicherungen zur sozialen Krankenversicherung (Art. 7). Sowohl die Spezialmaterien gemäss Art. 5 ZPO als auch die handelsrechtlichen Streitigkeiten gemäss Art. 6 ZPO bedürfen vor der Anrufung des Gerichts keines Schlichtungsversuchs (Art. 198 Abs. 1 lit. f ZPO). Sachlich wird dies unter anderem damit begründet, dass für diese Bereiche Gerichte mit Spezialwissen erforderlich sind, weshalb eine vorgängige Schlichtung bei der nicht spezialisierten Schlichtungsbehörde wenig Aussicht auf Erfolg hat (vgl. Botschaft des Bundsrats zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, BBl 2006 7329). Bei Fragen betreffend Zusatzversicherungen zur sozialen Krankenversicherung handelt es sich jedoch ebenfalls um Problemfelder, welche regelmässig atypische Zivilstreitigkeiten betreffen und entsprechendes Spezialwissen erfordern. Dies war auch der Grund, weshalb man den Kantonen mit Art. 7 ZPO die Möglichkeit liess, ein einziges kantonales Gericht mit deren Beurteilung zu betrauen (vgl. Rüetschi, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger, ZPO-Komm., Art. 7 N 11). Es ist folglich kein sachlicher Grund ersichtlich, weshalb dieser Bereich von der Ausnahme der Schlichtungsverhandlung ausgenommen sein soll.


3.3 Nichts Anderes geht aus der Entstehungsgeschichte von Art. 7 ZPO hervor. Die Bestimmung war im bundesrätlichen Entwurf noch nicht enthalten (BBl 2006 7413 ff.). Erst anlässlich der Beratung im Ständerat als Erstrat wurde angeregt, den Kantonen auch für Streitigkeiten betreffend Zusatzversicherungen zur sozialen Krankenversicherung die Möglichkeit zu geben, die bisherige Praxis mit einer gerichtlichen Instanz zu belassen (AmtlBull StR 2007 S. 500 f.). So wurde zunächst angedacht, den heutigen Art. 7 ZPO als Art. 6a in die ZPO aufzunehmen (AmtlBull NR 2008, S. 644). Auch dies zeigt die sachliche Nähe zu den handelsrechtlichen Streitigkeiten gemäss Art. 6 ZPO, welche gemäss Art. 198 ZPO keinen vorgängigen Schlichtungsversuch benötigen.


3.4 Auch aus der Entstehungsgeschichte von Art. 198 ZPO kann geschlossen werden, dass es dem Willen des Gesetzgebers entsprochen hat, auch die Streitigkeiten gemäss Art. 7 ZPO von der Notwendigkeit eines Schlichtungsverfahrens auszunehmen. So war im bundesrätlichen Entwurf zunächst angedacht, einzig die Streitigkeiten gemäss Art. 5 ZPO von der Schlichtung auszunehmen (vgl. Art. 195 lit. f im Entwurf, BBl 2006 7456). In der Beratung im Ständerat wurde dann jedoch vorgebracht, dass es keinen Sinn mache, die handelsgerichtlichen Streitigkeiten einem vorgängigen Schlichtungsversuch zu unterwerfen, da diese ebenfalls - wie die Streitigkeiten gemäss Art. 5 ZPO - einerseits Spezialwissen erforderten und andererseits gegebenenfalls nur durch eine kantonale Instanz zu entscheiden seien (AmtlBull StR 2007 S. 519; vgl. auch AmtlBull NR 2008 S. 950). Dass bei dieser Debatte nicht auch die Aufnahme von Streitigkeiten betreffend Zusatzversicherungen zur sozialen Krankenversicherung als Ausnahme vom vorgängigen Schlichtungsversuch angeregt wurde, hat daran gelegen, dass zum damaligen Zeitpunkt der heutige Art. 7 ZPO noch gar nicht im Entwurf enthalten war, da er - wie bereits ausgeführt - in derselben Beratung erst angeregt wurde. In der Folge wurde sowohl die Aufnahme des heutigen Art. 7 (damals Art. 6a) ZPO als auch die Anpassung des heutigen Art. 198 ZPO in dem Sinne, dass auch handelsgerichtliche Streitigkeiten gemäss Art. 6 ZPO keines vorgängigen Schlichtungsversuchs bedürfen, im Zweitrat diskussionslos beschlossen (AmtlBull NR 2008, S. 644, S. 947 ff.). Es fand folglich keine Auseinandersetzung mehr mit der Materie statt, so dass nicht auffiel, dass die Argumente, welche für eine Aufnahme der handelsgerichtlichen Streitigkeiten in den Ausnahmekatalog gemäss Art. 198 ZPO sprechen, auch für die mittlerweile in die ZPO eingefügten Streitigkeiten betreffend Zusatzversicherungen zur sozialen Krankenversicherung gelten. Es ist deshalb sachlich nicht zu begründen, dass Streitigkeiten gemäss Art. 7 ZPO eines vorgängigen Schlichtungsversuchs bei der Schlichtungsbehörde bedürfen und aufgrund der Gesetzesmaterialien spricht vieles dafür, dass es sich dabei um ein Versehen des Gesetzgebers handelt. Es liegt folglich ein Lücke im Gesetz vor, welche durch das Gericht zu schliessen ist (vgl. zum Ganzen auch: Spitz, Eidgenössische ZPO und Zusatzversicherungen zur sozialen Krankenversicherung, in: Jusletter 20. Dezember 2010).


4. Aufgrund der obigen Ausführungen ist es in Streitigkeiten aus Zusatzversicherungen zur sozialen Krankenversicherung nicht erforderlich, zunächst an die Schlichtungsbehörde zu gelangen, weshalb die vorliegende Klage zu Recht direkt beim Kantonsgericht eingereicht wurde. Auf die Klage ist somit einzutreten. (…).


5. (Kosten)


6. (Hinweis betreffend Rechtsmittelbelehrung)


KG SV Beschluss vom 1. Dezember 2011 i.S. M. (731 11 262).


Die Beklagte hat gegen Ziffer 2 dieses Beschlusses Beschwerde beim Bundesgericht erhoben.



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