| Instanz: | Kantonsgericht |
|---|---|
| Abteilung: | 2. Abteilung |
| Rechtsgebiet: | Strafprozessrecht |
| Entscheiddatum: | 30.05.2023 |
| Fallnummer: | 4M 22 105 |
| LGVE: | 2023 II Nr. 6 |
| Gesetzesartikel: | Art. 6 StPO, Art. 343 Abs. 1 und 3 StPO, Art. 389 Abs. 3 StPO. |
| Leitsatz: | In "Aussage gegen Aussage"-Konstellationen ist das erwachsene Opfer im Strafverfahren insgesamt mindestens zweimal zu befragen. Davon ist mindestens eine Befragung audiovisuell aufzuzeichnen. Die erste Einvernahme hat möglichst rasch nach dem inkriminierten Vorfall zu erfolgen, die zweite Befragung in der Regel innert sechs Monaten nach der ersten. |
| Rechtskraft: | Dieser Entscheid ist rechtskräftig. |
| Entscheid: | Aus den Erwägungen: 3.5.2. Gemäss Art. 389 Abs. 1 der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO; SR 312.0) beruht das Rechtsmittelverfahren auf den Beweisen, die im Vorverfahren und im erstinstanzlichen Hauptverfahren erhoben worden sind. Das Berufungsgericht wiederholt erstinstanzliche Beweisabnahmen, wenn die Voraussetzungen von Art. 389 Abs. 2 StPO erfüllt sind, und erhebt von Amtes wegen oder auf Antrag einer Partei die erforderlichen zusätzlichen Beweise (Art. 389 Abs. 3 StPO). Eine unmittelbare Beweisabnahme im Rechtsmittelverfahren hat laut bundesgerichtlicher Praxis auch zu erfolgen, wenn eine solche im erstinstanzlichen Verfahren unterblieb oder unvollständig war und die unmittelbare Kenntnis des Beweismittels für die Urteilsfällung notwendig erscheint (Art. 405 Abs. 1 i.V.m. Art. 343 Abs. 3 StPO; BGE 143 IV 288 E. 1.4.1, 140 IV 196 E. 4.4.1; BGer-Urteile 6B_1097/2021 vom 26.10.2022 E. 5.3.2, 6B_612/2020 vom 1.11.2021 E. 2.3.3, 6B_307/2016 vom 17.6.2016 E. 2.5). Eine unmittelbare Abnahme eines Beweismittels ist notwendig im Sinne von Art. 343 Abs. 3 StPO, wenn sie den Ausgang des Verfahrens beeinflussen kann. Dies ist namentlich der Fall, wenn die Kraft des Beweismittels in entscheidender Weise vom Eindruck abhängt, der bei seiner Präsentation entsteht, beispielsweise wenn es in besonderem Masse auf den unmittelbaren Eindruck der Aussage der einzuvernehmenden Person ankommt, so wenn die Aussage das einzige direkte Beweismittel ("Aussage gegen Aussage"-Konstellation) darstellt. Allein der Inhalt der Aussage einer Person (was sie sagt), lässt eine erneute Beweisabnahme nicht notwendig erscheinen. Massgebend ist, ob das Urteil in entscheidender Weise von deren Aussageverhalten (wie sie es sagt) abhängt (BGE 140 IV 196 E. 4.4.2; BGer-Urteile 6B_612/2020 vom 1.11.2021 E. 2.3.3, 6B_249/2021 vom 13.9.2021 E. 1.1.2, 6B_735/2020 vom 18.8.2021 E. 2.2.3, 6B_1087/2019 vom 17.2.2021 E. 1.2.2 je m.H.). Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung können auf Video aufgezeichnete Einvernahmen genügen, um sich ein hinreichendes Bild von der Glaubwürdigkeit der Auskunftsperson oder des Zeugen respektive der Glaubhaftigkeit deren Aussagen zu verschaffen. Dies ist namentlich der Fall, wenn weitere Sachbeweise oder Indizien vorliegen und die einvernommene Person konstant und in sich logisch konsistent aussagt (BGer-Urteile 6B_612/2020 vom 1.11.2021 E. 2.3.4, 6B_1265/2019 vom 9.4.2020 E. 1.2 [nicht publ. in: BGE 146 IV 153], 6B_687/2018 vom 4.6.2019 E. 2.3, 6B_70/2015 vom 20.4.2016 E. 1.1, 6B_430/2015 vom 12.6.2015 E. 2.5). Das Gericht verfügt bei der Frage, ob eine erneute Beweisabnahme erforderlich ist, über einen Ermessensspielraum (BGE 140 IV 196 E. 4.4.2, BGer-Urteile 6B_612/2020 vom 1.11.2021 E. 2.3.5, 6B_735/2020 vom 18.8.2021 E. 2.2.3, 6B_1087/2019 vom 17.2.2021 E. 1.2.2 je m.H.). Vorliegend handelt es sich um eine "Aussage gegen Aussage"-Konstellation. Die Aussagen der beiden beteiligten Personen sind die einzigen und damit entscheidenden direkten Beweismittel. Sachbeweise dafür, dass der Geschlechtsverkehr zwischen der Privatklägerin und dem Angeklagten einvernehmlich oder nicht einvernehmlich war, finden sich in den Akten nicht. Der Anklagevorwurf stützt sich weitestgehend auf die Aussagen der heute volljährigen Privatklägerin, die bisher lediglich einmal – audiovisuell – einvernommen wurde. In einer solchen Konstellation ist es unerlässlich, die Privatklägerin ein zweites Mal persönlich anzuhören und zu befragen. Nur wenn von einer aussagenden Person mehrere Aussagen über denselben Sachverhalt zu verschiedenen Zeitpunkten vorliegen, können diese Aussagen mittels einer sogenannten Konstanzanalyse hinsichtlich Auslassungen, Ergänzungen und Widersprüche überprüft und bewertet werden. Die Konstanzanalyse stellt dabei ein wesentliches methodisches Element der Aussageanalyse dar. Es handelt sich um eine Mindestanforderung einer als glaubhaft beurteilten Aussage (BGer-Urteil 6B_595/2021 vom 24.6.2022 E. 5.4.2 mit Hinweisen; vgl. BGE 128 I 81 E. 2 und 3; Berlinger, Glaubhaftigkeitsbegutachtung im Strafprozess, Diss. Luzern 2014, S. 43 ff.; Ludewig/Baumer/Tavor, Wie können aussagepsychologische Erkenntnisse Richtern, Staatsanwälten und Anwälten helfen?, in: AJP 2011 S. 1415 ff., S. 1429). Eine zweite Befragung ist notwendig, um inhaltliche Diskrepanzen und Unklarheiten in den Aussagen der Privatklägerin anzusprechen, die bisher nicht thematisiert wurden. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich nach der ersten Einvernahme durch neue Beweismittel Widersprüche ergeben, zu denen die Privatklägerin bisher nicht Stellung nehmen konnte. Ein ausdrücklicher Antrag einer Partei ist für die Befragung vor Schranken nicht erforderlich. Sowohl die Rechtsmittelinstanz als auch das erstinstanzliche Gericht sind dem Untersuchungsgrundsatz verpflichtet (Art. 6 StPO; vgl. Art. 343 Abs. 1 und 3 StPO; Art. 389 Abs. 3 StPO). Aus all diesen Gründen und entgegen der im angefochtenen Urteil vertretenen Auffassung erweist sich die Zweiteinvernahme der Privatklägerin vorliegend geradezu als zwingend und wurde im Berufungsverfahren nachgeholt. Nach dem Gesagten ist das erwachsene Opfer in Konstellationen wie der vorliegenden im Strafverfahren insgesamt mindestens zweimal zu befragen. Davon ist mindestens eine Befragung audiovisuell aufzuzeichnen. Die erste Befragung hat möglichst rasch nach dem Vorfall stattzufinden (vgl. für die Befragung von Kindern ausdrücklich Art. 154 Abs. 2 StPO), wobei zu berücksichtigen ist, dass der Abruf von Erinnerungen wenige Stunden nach dem Ereignis erschwert sein kann, was sich negativ auf die Qualität der (Erst-)Aussage auswirken kann. Empirische Untersuchungen zeigen, dass dieser Effekt drei bis vier Stunden nach dem stressauslösenden Ereignis nachlässt (Sommer/Gamer, Einfluss traumatischer Ereignisse auf das Gedächtnis – neurowissenschaftliche Befunde, in: Praxis der Rechtspsychologie 1/28, S. 97 ff.; Niehaus, Einvernahme und Aussagepsychologie, in: Seminar zur 5. Tagung zum Strafprozessrecht, Zürich 2022, S. 156 ff.). Die zweite Befragung hat grundsätzlich im Vorverfahren oder spätestens im erstinstanzlichen Hauptverfahren zu erfolgen. Das Erinnerungsvermögen verschlechtert sich bei grossen Zeitabständen zwischen dem Ereignis und der Einvernahme. Bei Zeitspannen unter sechs Monaten fällt der Zeitfaktor für das Erinnerungsvermögen jedoch weniger ins Gewicht, woraus sich ableiten lässt, dass die Zweiteinvernahme idealerweise möglichst rasch, spätestens jedoch innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten nach der ersten Befragung erfolgen sollte (vgl. Roebers, in: Walther/Preckel/Mecklenbräuker [Hrsg.], Befragung von Kindern und Jugendlichen, Göttingen 2010, S. 269 f.). |