Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
Entscheid: AL.1999.01193
AL.1999.01193

Sozialversicherungsgericht
des Kantons Zürich
III. Kammer
Sozialversicherungsrichter Faesi, Vorsitzender

Sozialversicherungsrichterin Daubenmeyer

Sozialversicherungsrichterin Annaheim

Gerichtssekretär Bachofner


Urteil vom 29. Juli 2004
in Sachen
Z.___
 
Beschwerdeführerin

gegen

Amt für Wirtschaft und Arbeit (AWA)
Abteilung Arbeitslosenversicherung
Postfach, 8090 Zürich
Beschwerdegegner


Sachverhalt:
1.       Die 1939 geborene Z.___ arbeitete seit 1. September 1986 als Physiotherapeutin für Dr. med. A.___ (Urk. 6/6). Ab Anfang 1996 begann sie zunehmend unter Schmerzen an der rechten Hüfte zu leiden. Im Oktober 1997 wurde ihr - bei diagnostizierter Coxarthrose - auf der rechten Seite eine Hüfttotalendoprothese eingesetzt. Ab 15. September 1997 war sie in ihrer Tätigkeit als Physiotherapeutin - abgesehen von einer viermonatigen Phase der vollständigen Arbeitsfähigkeit - teilweise oder vollständig arbeitsunfähig geschrieben (Urk. 10/4). Am 10. Juli 1998 löste Dr. A.___ das Arbeitsverhältnis mit Z.___ wegen Überkapazitäten in der Physiotherapie per Ende Oktober 1998 auf (Urk. 6/7). In der Folge beantragte die Versicherte ab 1. November 1998 Arbeitslosenentschädigung und erklärte sich bereit und in der Lage, im Umfang einer Vollzeitstelle zu arbeiten. Gleichzeitig wies sie darauf hin, dass sie sich am 4. Oktober 1998 zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung angemeldet hatte (Urk. 6/5/1).
         Mit Verfügung vom 9. August 1999 sprach die Sozialversicherungsanstalt des Kantons Zürich, IV-Stelle, der Versicherten basierend auf einem Invaliditätsgrad von 50 % rückwirkend ab 1. September 1998 eine halbe Invalidenrente zu (Urk. 6/4).

2.       Mit Verfügung vom 10. September 1999 bejahte das Amt für Wirtschaft und Arbeit (AWA) die Vermittlungsfähigkeit von Z.___ ab 1. November 1998 im Ausmass von 50 % einer Vollzeitbeschäftigung (Urk. 2). Dagegen erhob die Versicherte am 10. Oktober 1999 Beschwerde mit dem sinngemässen Antrag um Aufhebung der angefochtenen Verfügung (Urk. 1). Das AWA hielt mit Beschwerdeantwort vom 27. Oktober 1999 an seinem Entscheid fest (Urk. 5). Mit Verfügung vom 1. November 1999 (Urk. 7) wurden die IV-Akten beigezogen und unter Urk. 10/1-8 zu den Akten genommen. Am 24. November 1999 wurde der Schriftenwechsel geschlossen (Urk. 11). Mit Verfügung vom 16. Oktober 2000 wurde der Prozess bis zur Klärung der Auslegung des Begriffs der "verbleibenden Erwerbsfähigkeit" (im Sinne von Art. 40b der Verordnung über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung [AVIV]) durch das Eidgenössische Versicherungsgericht sistiert (Urk. 12). Mit Urteil in Sachen P. vom 21. April 2004, C 66/03, äusserte sich das Eidgenössische Versicherungsgericht zur strittigen Rechtsfrage, so dass die Sistierung des vorliegenden Verfahrens aufgehoben werden kann.


Das Gericht zieht in Erwägung:
1.       Am 1. Januar 2003 sind das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000 (ATSG) und die Verordnung über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vom 11. September 2002 (ATSV) in Kraft getreten und haben in einzelnen Sozialversicherungsgesetzen und -verordnungen zu Revisionen geführt. In materiellrechtlicher Hinsicht gilt jedoch der allgemeine übergangsrechtliche Grundsatz, dass der Beurteilung jene Rechtsnormen zu Grunde zu legen sind, die gegolten haben, als sich der zu den materiellen Rechtsfolgen führende Sachverhalt verwirklicht hat (vgl. BGE 127 V 467 Erw. 1, 126 V 136 Erw. 4b, je mit Hinweisen). Da sich der hier zu beurteilende Sachverhalt vor dem 1. Januar 2003 verwirklicht hat, gelangen die materiellen Vorschriften des ATSG und der ATSV sowie die gestützt darauf erlassenen Gesetzes- und Verordnungsrevisionen im vorliegenden Fall noch nicht zur Anwendung. Bei den im Folgenden zitierten Gesetzes- und Verordnungsbestimmungen handelt es sich deshalb - soweit nichts anderes vermerkt wird - um die Fassungen, wie sie bis Ende 2002 in Kraft gewesen sind.

2.      
2.1     Eine der Voraussetzungen für den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung ist die Vermittlungsfähigkeit (Art. 8 Abs. 1 lit. f des Bundesgesetzes über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung [AVIG]). Gemäss Art. 15 Abs. 1 AVIG ist der Arbeitslose vermittlungsfähig, wenn er bereit, in der Lage und berechtigt ist, eine zumutbare Arbeit anzunehmen. Zur Vermittlungsfähigkeit gehört demnach nicht nur die Arbeitsfähigkeit im objektiven Sinn, sondern subjektiv auch die Bereitschaft, seine Arbeitskraft entsprechend seinen persönlichen Verhältnissen während der üblichen Arbeitszeit einzusetzen (BGE 125 V 58 Erw. 6a, BGE 123 V 216 Erw. 3 mit Hinweis).
2.2     Der körperlich oder geistig Behinderte (vgl. zu diesem Begriff ARV 1999 Nr. 19 S. 106 Erw. 2) gilt nach Art. 15 Abs. 2 AVIG als vermittlungsfähig, wenn ihm bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage, unter Berücksichtigung seiner Behinderung, auf dem Arbeitsmarkt eine zumutbare Arbeit vermittelt werden könnte. Art. 15 Abs. 2 AVIG statuiert zwei Kriterien, nach welchen die Vermittlungsfähigkeit von dauernd Behinderten (ARV 1991 Nr. 10 S. 95 f. Erw. 3b) zu beurteilen ist. Einerseits ist die Vermittelbarkeit der behinderten Person "unter Berücksichtigung ihrer Behinderung" zu prüfen. Es dürfen daher nur Einsatzmöglichkeiten in Betracht gezogen werden, bei denen auf die gesundheitlichen Leistungsdefizite Rücksicht genommen werden kann. Sodann hat die Beurteilung auf hypothetischer Grundlage, nämlich "bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage", zu erfolgen (BGE 110 V 276 Erw. 4b; ZAK 1991 S. 320 Erw. 3b). Nur die Erwerbslosigkeit, welche "voll oder stark überwiegend" auf den Gesundheitszustand einer behinderten Person zurückzuführen ist, gehört nicht zu dem von der Arbeitslosenversicherung gedeckten Risiko (ARV 1998 Nr. 5 S. 30 Erw. 3b/aa, ARV 1993/1994 Nr. 13 S. 104 Erw. 3a mit Hinweisen).
2.3     Diesem Grundgedanken entspricht auch die Koordinationsregel des Art. 15 Abs. 3 der Verordnung über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung (AVIV). Danach gilt ein Behinderter, der unter der Annahme einer ausgeglichenen Arbeitsmarktlage nicht offensichtlich vermittlungsunfähig ist und der sich bei der Invalidenversicherung oder bei einer anderen Versicherung nach Art. 15 Abs. 2 AVIV angemeldet hat, bis zum Entscheid der anderen Versicherung als vermittlungsfähig. Zwar sind Invaliden- und Arbeitslosenversicherung nicht komplementäre Versicherungszweige in dem Sinne, dass die vom Erwerbsleben ausgeschlossene versicherte Person sich in jedem Fall entweder auf Invalidität oder aber auf Arbeitslosigkeit berufen könnte. Wer trotz eines schweren Gesundheitsschadens invalidenversicherungsrechtlich nicht in rentenbegründendem Masse erwerbsunfähig ist, kann gleichwohl arbeitslosenversicherungsrechtlich gesehen vermittlungsunfähig sein (BGE 109 V 29 unten). Anderseits schliesst der Bezug einer ganzen Invalidenrente die Vermittlungsfähigkeit nicht grundsätzlich aus (vgl. ARV 1988 Nr. 5 S. 39 Erw. 4d). Dennoch kann es auf Grund der dargelegten gesetzgeberischen Zielsetzung für die Beurteilung der Vermittlungsfähigkeit Behinderter nicht ohne Belang sein, ob und in welchem Masse sich der Gesundheitsschaden nachteilig auf die erwerblichen Möglichkeiten auswirkt (ARV 1998 Nr. 5 S. 31 Erw. 3b/bb, ARV 1993/1994 Nr. 13 S. 105 Erw. 3b).
2.4 Bestehen erhebliche Zweifel an der Arbeitsfähigkeit eines Arbeitslosen, so kann die kantonale Amtsstelle eine vertrauensärztliche Untersuchung auf Kosten der Versicherung anordnen (Art. 15 Abs. 3 AVIG). Beigezogene Vertrauensärzte haben die Vermittlungsfähigkeit nicht selber zu beurteilen. Diese Aufgabe obliegt der Verwaltung und im Beschwerdefall dem Gericht. Im Rahmen einer Untersuchung zur Abklärung der Vermittlungsfähigkeit haben sich die Ärzte deshalb grundsätzlich darauf zu beschränken, den Gesundheitszustand zu diagnostizieren und dazu Stellung zu nehmen, ob, in welchem Umfang, bezüglich welcher Tätigkeiten und unter welchen Rahmenbedingungen hinsichtlich Arbeitsplatz und -zeit die versicherte Person arbeitsunfähig ist (ARV 1998 Nr. 5 S. 31 Erw. 3b/cc, ARV 1993/1994 Nr. 13 S. 105 Erw. 3c mit Hinweis).
2.5     Die Vermittlungsfähigkeit ist prospektiv zu beurteilen, das heisst von jenem Zeitpunkt aus und unter Würdigung jener Verhältnisse, die bei Erlass der angefochtenen Verfügung gegeben waren (ARV 1992 Nr. 2 S. 75 Erw. 3 mit Hinweis auf BGE 112 V 398 Erw. 1a).

3.
3.1     Zu prüfen ist, inwieweit die Beschwerdeführerin trotz ihres beeinträchtigten Gesundheitszustandes ab dem 1. November 1998 als vermittlungsfähig im Sinne von Art. 15 Abs. 2 AVIG zu gelten hat.
         Das AWA ging - unter Hinweis auf den von der Invalidenversicherung auf 50 % festgesetzten Invaliditätsgrad - von einer Vermittlungsfähigkeit von ebenfalls 50 % aus (Urk. 2).
         Demgegenüber bringt die Beschwerdeführerin im Wesentlichen vor, aufgrund einer Auskunft ihrer Beraterin im Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) sei sie davon ausgegangen, dass ihr - für den Fall, dass ihr die IV-Stelle eine halbe Rente zuspreche - diese Rente vom versicherten Verdienst abgezogen und dann "der Rest zu 70 % berechnet" würde. Sie habe sich auf diese Auskunft verlassen und die IV-Rente nicht abgelehnt. Ein Arztzeugnis, das ihr "100 % Vermittlungsfähigkeit" bescheinige, habe sie fristgerecht eingereicht. Ab Juli des Jahres 1999 sei ihr nun, ohne dass sie vorher orientiert worden wäre, der versicherte Verdienst um die Hälfte gekürzt worden, was gegen die vorherigen Auskünfte und "Absprachen" geschehen sei (Urk. 1).
3.2     Laut Arztbericht vom 18. Dezember 1998 (Urk. 10/4) von Dr. med. B.___, FMH Orthopädische Chirurgie, ist die Beschwerdeführerin in ihrer angestammten Tätigkeit als Physiotherapeutin seit 1. November 1998 nur noch zu 50 % arbeitsfähig. In einem "mehr administrativen Beruf" wäre die Beschwerdeführerin laut Dr. B.___ ab diesem Zeitpunkt jedoch wahrscheinlich zu 80 oder 100 % einsetzbar. Diese Einschätzung bestätigte er mit ärztlichem Zeugnis vom 26. März 1999 (Urk. 6/3), in welchem er der Beschwerdeführerin für leichte oder angepasste Tätigkeiten (Wassergymnastik, Aufsicht als Schwimmleiterin, administrative Arbeiten) eine 100%ige Arbeitsfähigkeit attestierte. Dieser Beurteilung widersprechende ärztliche Stellungnahmen liegen nicht vor, weshalb darauf abgestützt werden kann.
         Gemäss ihren Angaben im Antrag auf Arbeitslosenentschädigung, an denen zu zweifeln es - soweit ersichtlich - keinen Anlass gibt, ist die Beschwerdeführerin auch gewillt, ihr zumutbare Tätigkeiten im Umfang einer Vollzeitstelle auszuüben (Urk. 6/5/1, 6/5/4).
         Die Beschwerdeführerin ist deshalb - entgegen der Ansicht des AWA - im Rahmen einer solchen, ihren gesundheitlichen Beschwerden angepassten Tätigkeit ab dem 1. November 1998 im Umfang einer Vollzeitstelle vermittlungsfähig.
3.3     Die von der Invalidenversicherung festgestellte - bereits vor der Arbeitslosigkeit eingetretene - gesundheitsbedingte Beeinträchtigung der Erwerbfähigkeit der Beschwerdeführerin bleibt im Rahmen der Festsetzung des versicherten Verdienstes zu berücksichtigen (Art. 40b AVIV; Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts in Sachen P. vom 21. April 2004, C 66/03, Erw. 2.3 ff.). Diese bildet aber nicht Gegenstand der angefochtenen Verfügung, weshalb diesbezüglich mangels Anfechtungsgegenstand nicht auf die Beschwerde einzutreten ist (BGE 125 V 414 Erw. 1a, 119 Ib 36 Erw. 1b, je mit Hinweisen).





Das Gericht erkennt:


1.         Die Beschwerde wird, soweit auf sie eingetreten wird, in dem Sinne gutgeheissen, dass die Verfügung des AWA vom 10. September 1999 aufgehoben und festgestellt wird, dass die Beschwerdeführerin ab 1. November 1998 im Rahmen einer Vollzeitstelle vermittlungsfähig ist.
2.         Das Verfahren ist kostenlos.
3. Zustellung gegen Empfangsschein an:
- Z.___
- Amt für Wirtschaft und Arbeit (AWA)
- Staatssekretariat für Wirtschaft seco
sowie an
-  ALK SYNA, Zürich
4.         Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen seit der Zustellung beim Eidgenössischen Versicherungsgericht Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingereicht werden.
Die Beschwerdeschrift ist dem Eidgenössischen Versicherungsgericht, Schweizerhofquai 6, 6004 Luzern, in dreifacher Ausfertigung zuzustellen.
Die Beschwerdeschrift hat die Begehren, deren Begründung mit Angabe der Beweismittel und die Unterschrift der beschwerdeführenden Person oder ihres Vertreters zu enthalten; die Ausfertigung des angefochtenen Entscheides und der dazugehörige Briefumschlag sowie die als Beweismittel angerufenen Urkunden sind beizulegen, soweit die beschwerdeführende Person sie in Händen hat (Art. 132 in Verbindung mit Art. 106 und 108 OG).